Von Daniel Thalheim
Ein Rechtsstreit öffnet den Blick für die Leipziger Kunst vor 1945
Ein Rechtsstreit um zwei Skulpturen aus der Zeit des deutschen Sezessionimus sorgte seit 2015 für Öffentlichkeit. Der Vorgang öffnet aber wieder den Blick auf ein Leipziger Kunsttreiben, das vor dem Ersten Weltkrieg stattfand. Der Sohn des früheren Direktors des Leipziger Zoologischen Gartens, Johannes Gebbing, wollte sie per Klage aus dem Besitz der Stadt Leipzig entreißen. Nun bleiben „Jason und die Stiere des Aietes“ von Walter Lenck sowie der „Athlet“ von Max Klinger im Besitz der Stadt und an ihren Standorten im Leipziger Zoo. Denn der Kläger hat seine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision vor dem Bundesgerichtshof zurückgenommen. Mit diesem Rückzug ist das zweitinstanzliche Urteil des Oberlandesgerichts Dresden vom 26. Oktober 2018 und das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts Leipzig vom 18. Mai 2018, nach denen die Stadt Leipzig als Beklagte gegen die Herausgabeklage bereits obsiegt hatte, rechtskräftig. Der Weg ist so auch frei für eine Leistungsschau über einen Künstler und sein Umfeld geworden. 2020 jährt sich der Tod des Allrounders Max Klinger zum hundertsten Mal. Er verband, wie andere Sezessionisten in Europa um 1900, Architektur, Malerei und Grafik zu einem Gesamtkunstwerk. Das Museum der bildenden Künste geht anlässlich seines Todes in die Tiefen seines Gesamtschaffens und hebt einige Schätze, die ein umfassendes Bild des Leipziger Netzwerkers und Förderers zeichnen sollen als bisher getan. Was können Leipziger 2020 im MdbK erwarten?
Klingers Athlet – Sinnbild für künstlerische Ausgewogenheit
Zurück zum Zoo. Beide Kunstwerke, um die sich in der letzten Zeit Anwälte und Gerichte kümmerten, sind nicht nur denkmalgeschützt und wegen ihrer Präsenz allein wertvoll. Die Bronzen sind auch kunsthistorisch sehr interessant. Sie stehen wegen ihres Einfrierens von Kraft, Bewegung und Ausdruck ganz dem Geist des französischen Bildhauers Auguste Rodin nahe. Er gilt als ein Bildhauer, der „impressionistisch“ arbeitete, Skulpturen auch mal unvollendet ließ.
Das Unfertige und Unvollendete erhob Auguste Rodin zum künstlerischen Prinzip und findet v.a. in der Skulptur Max Klingers seine Entsprechung. Klingers, vielleicht entstandenes 1901 und 1932 durch den Zoo Leipzig erworbenes, Werk – eine Bronze-Studie eines Athleten – gilt in der Kunstwissenschaft als Fixierung einer Skizze. Noch viel stärker trifft dieses Urteil auf sein Erstlingswerk zu, das heute im Besitz des Museums der bildenden Künste ist und einen stehenden Athleten zeigt, der beide Hände im Nacken ineinanderfaltet und so eine „Bodybuilder-Pose“ einnimmt.
In der 2007 erschienenen Schrift „Max Klinger: auf der Suche nach dem neuen Menschen“ wird die These aufgestellt, Klingers Athletenbüsten um 1900 seien Darstellungen von Kraft und Schönheit. Bekannt ist, dass der Künstler mit athletischen Modellen arbeitete und sie auch die Kunstwerke begutachten ließ. In einem 1919 erschienenen Buch von Willy Pastor wird sogar davon gesprochen, Klinger habe lediglich ausgefeilte Erfahrungen als Bildner weiblicher Akte besessen, nicht des männlichen Körpers. So wären demzufolge alle seine Athletenskulpturen „Beispiele unvollendeten Könnens“.
Die sich im MdbK befindende Zweitfassung des stehenden „Athleten“ ist ein Teil einer Figurengruppe mit einer dazu gestellten Frau, die bereits 1899 von Klinger konzipiert wurde und zum Mittelpunkt einen Zirkusdarsteller hat. Sie wurde 1901 fertiggestellt u.a. auch auf der Großen Sezessionsausstellung 1902 in Wien u.a. zusammen mit dem Beethoven und einer Mädchenbüste gezeigt.
Klinger – der Zweifler
Besaß Klinger eine unterschwellige Homophobie? Oder nahm Klinger lediglich einen um 1900 aufkommenden Trend der Bodybuilder-Wettbewerbe auf, wie es der englische Bildhauer Charles Lewes seinerzeit getan hatte? Die Literatur strotzt nur von Verweisen auf den Bodybuilder-Trend und der Reformidee des Nacktseins in der Natur. Somit löste sich der zart nach Frühling und Sommer duftende Geist des Impressionismus in einer Testosteron geschwängerten Wolke aus Angst vorm Männerkörper, bzw. Unbehagen ihn darzustellen in Mischung mit einer Mode, den von Muskelschwellungen gestählten Männerkörper stärker in den Fokus des Interesses zu rücken. In vielen Kunstwerken des Art Nouveau sehen wir karikaturenhaft geschnittene Muskelberge mit breitem Kinn und scharf gezogenen Gesichtszügen – als würden die dargestellten Männer in Angriff übergehen. Klinger arbeitete verhaltener, überspitzte nur selten und ließ in Leipzig ein wenig den hormongestählten Druck aus seinen Plastiken ab, zeigte in seinen Skulpturen auch die körperliche – und vielleicht auch geistige – Schwäche, die in dem ganzen Image des Körperkultes zugrunde liegt. So gesehen, wäre Klinger ein typischer Vertreter der Klassischen Moderne, der seine Zweifel und Unsicherheiten in seinem Werk zum Ausdruck brachte.
Klingers Grabstätte schmückt noch heute die lebensgroße Bronzeplastik eines knienden Athleten – ein Pendant des Standbildes im Leipziger Zoo. Für die Figur soll nach Angaben des MdbK der Berufsathlet Lionel Strongfort Modell gestanden haben, der zu jener Zeit als „moderner Herkules“ mit kraftakrobatischen Vorführungen weltweit in Varietés auftrat. Um den Jahreswechsel 1900/01 hatte er auch im Leipziger Krystallpalast Station gemacht, einer der größten Vergnügungsstätten in Deutschland.
Die Bronzefigur dieses knienden Athleten und weitere Athletendarstellungen ließen Klinger in eine neue Schaffensphase treten, in der er sich als Bildhauer, wie Auguste Rodin vor ihm auch, intensiv mit der lebensgroßen Aktfigur auseinandersetzte. Ein zentraler kulturhistorischer Aspekt der Lebensreformbewegung um 1900 war die Herausbildung eines neuen Verhältnisses zum Körper, das sich einschneidend auf künstlerisch-ästhetische Fragen auswirkte und diese mit der griechisch-antiken Mythologie verknüpfte.
Lenck, Stuck und Kolbe: Lauter Athletenleiber – Kraft durch Muskeln?
Wie Walter Lenck gehört Klinger aber auch zu den Künstlern, die die griechische Antike und Mythologie zur Geltung bringen wollten. Lenck, im Gegensatz zum Leipziger Symbolisten, übertrieb seine Ausdruckskraft so sehr, dass sich 1928 der Leipziger Grafiker Max Schwimmer zur Aussage hinreißen ließ, bei der Jason-Gruppe, eine 1927 für 20.000 RM erworbene und 1928 erfolgte Schenkung des Leipziger Händlers Otto Schultz an den Leipziger Zoo, handele es sich um monumentalen Kitsch. Ein Blick in die Dresdner Kunstausstellung 1903/04 und in die Berliner Künstlerbund-Ausstellung 1905 reicht aber schon, woher die intensive Beschäftigung mit dem menschlichen Körper unter den Nazis kam und die Überhöhung des Körpers zwischen 1933 und 1945 so populär war. Vor dem Ersten Weltkrieg war der Männerakt Sinnbild für Kraft und Leben geworden. Künstler wie Franz Metzner, Bruno Heroux, Georg Kolbe, Carlo Fontana, C.A. Niehaus, Franz Stuck und Sascha Schneider stellten das Maskuline in den Mittelpunkt ihres Schaffens, oftmals mit einem Auge in die Zukunft gerichtet. Vieles von dem, was diese Künstler vor dem Ersten Weltkrieg schufen, kam unter den Nazis zu einer neuen Blüte.
Was vom Klingerjahr 2020 im MdbK zu erwarten ist
Klingers plastisches Werk gilt, bis auf wenige Gesamtdarstellungen, in der Fachwelt als nahezu unerschlossen. Einige Werke sind über 20 Jahre alt, andere haben über zehn Jahre auf dem Buckel. Innerhalb dieses Zeitraums sind die Erkenntnisse über sein bildnerisches Schaffen mit Sicherheit gewachsen, wie künftig die große Klingerausstellung im MdbK zeigen wird. Doch nicht nur die Form war für den Künstler interessant. Zum plastischen Werk gehört auch Klingers Experimentieren mit der Farbplastik als Aufgreifen und Weiterentwickeln der griechische Antike.
Ändern wird sich der Blick auf ihn und sein Gesamtkunstwerk mit der kommenden Ausstellung im Museum der bildenden Künste in Leipzig. Besucher der Klinger-Ausstellung dürfen erwarten, dass der alte Klinger-Saal der ehemaligen Apsis am Vorgängerbau am Augustusplatz vielleicht in digitaler Form rekonstruiert wird und so ein erfahrbarer Ruf aus der Vergangenheit des MdbK ist, als das Museum an der Stelle des heutigen Gewandhauses noch mit Gaslampen beleuchtet wurde, die verzinkten Dächer die Räume im Sommer stark aufheizten und im Winter stark abkühlten. An den 1902 begonnenen Planungen der grün-blau gehaltenen Klinger-Apsis wirkte der Maestro selbst mit und begutachtete die ersten Änderungen und Renovierungsarbeiten kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs bis zu seinem Tod.
Eine Erweiterung der Apsis für die alleinige Aufnahme der Klinger-Werke war schon bei der Errichtung derselben spruchreif, wurde aber erst 1940/41 ernsthaft betrieben und wegen Kriegsunwichtigkeit eingestellt. Ein 1943 erfolgter Bombenangriff leitete den heißen Abriss des längst baufälligen Museumshauses ein.
Inwieweit eine Rekonstruktion seines Ateliers sowohl im Vorgängerbauwerks des heutigen Westwerk als auch neben seiner ehemaligen Villa möglich ist, dürfte als Überraschung ebenfalls im Raum stehen. Mit Sicherheit bilden Klingers künstlerische Netzwerke in Leipzig, Berlin und Wien ebenso eine wichtige Rolle wie die Einordnung seines Schaffens in die Sezessionskunst um 1900 in Europa. Klinger als Wandmaler wird ebenso im Mittelpunkt stehen wie die Erschließung seines Werkes im Zug der aufkommenden Bodybuilder-Bewegung. Auch seine künstlerische Vorstellung von der Frau wird in der kommenden Jubiläumsausstellung „Klinger 2020“ behandelt. In welcher Form Klinger sich mit Musik beschäftigte, ihn mit Gustav Klimt und, die über ihre Schülerin Elisabeth Voigt als eine Initiatorin der Leipziger Schule agierende, Käthe Kollwitz nahe stehen ließ und wie ein von ihm bemaltes Treppenhaus im damaligen MdbK ausgesehen hätte, werden 2020 am MdbK ebenso zu behandelnde Stoffe sein. Auguste Rodin wird ebenso aus der Ferne dabei sein. Dass Max Klinger immer noch Bestandteil des künstlerischen Lebens ist, zeigt v.a. der symbolistische Duktus vieler künstlerischer Positionen in dieser Stadt.