Luftiges Projekt – Leipzigs Matthäikirchhof bringt viel Grün in die Stadtmitte

Daniel Thalheim

Gewonnen hat luftiges Grün und viel Raum für Erholung. Für ein Filetstück wie den Matthäikirchhof und die Stadt Leipzig eine Ehre auf so viele künftige Einnahmen verzichten zu können. An dieser Stelle bleibt Potenzial liegen. Die Entscheidung, auf Bürgerbeteiligung zu setzen ist zwar löblich aber eignet sich nicht, den historischen Platz wirklich zu würdigen.

Was wird kommen?

Leipzig ist grün genug, mag mancher denken. Bürgerbeteiligungen sind auch toll. Eignen sich beide Ansätze den lukrativen Stadtraum in Leipzigs Zentrum auszufüllen? Wohl kaum. Wenn es um Fußgängerstreifen in Wohngebieten in Nähe von Schule und KiTas geht, sind Schwellenangebote wie Bürgerbeteiligungen wichtig und richtig. Auch wenn es um die Gestaltung und Pflege von Grünanlagen geht, sind Bürgerbeteiligungen eine prima Angelegenheit. Nun erhält das letzte verlotterte Stück Stadtzentrum mit dem Willen eines kleinen Teils der Leipziger Bürgerschaft eine aufgelockerte Blockbebauung mit grünen Innenhöfen als befände man sich künftig in einem DDR-Wohngebiet am Rande der Stadt.

Der historische Platzcharakter wird im Siegerentwurf des Büros Riehle Koeth GmbH+Co. KG in Zusammenarbeit mit Levin Monsigny Landschaftsarchitekten nicht aufgegriffen. Der durch die historische Randbebauung entstandene historische und urbane Flair mit italienischen Anklängen ebenso nicht. Aus Sicht des feststehenden Entwurfs wird hingegen im statischen Beamtendeutsch als ein „lebendiges Quartier mit Bildungs- und Kultureinrichtungen, Flächen für kleinteiliges Gewerbe, Dienstleistungen, einem hohen Wohnanteil und ein Ort der gelebten Demokratie“ beschrieben. Hört sich wie ein Mischgebiet aus Gewerbe und Wohnen an, das an anderer Stelle in Leipzig besser ausgesehen hätte. Ein winziger Teil der Leipziger Stadtgesellschaft war über einen umfassenden Beteiligungsprozess in das mehrstufige Vorhaben eingebunden und hatte so die Legitimierung erhalten auf diese Weise an der Ausgestaltung des künftigen Matthäikirchhofs aktiv mitwirken, von dem in Zukunft wieder nur der Name an das einstige historische Potenzial erinnern wird.

Was hätte kommen müssen

Der Matthäikirchhof war im alten Leipzig der zweite große Marktplatz. Im 13. Jahrhundert mit dem Bau der Barfüßerkirche als Friedhof entstanden, wurde der Raum im 16. Jahrhundert mit der Auslagerung des Friedhofs vor den Stadttoren zum Umschlagplatz für Waren. Die historischen Klostergebäude wurden ebenfalls in dieser Zeit abgerissen, es entstanden bürgerliche Wohnbauten. In der DDR-Zeit wurde der einstige Platzcharakter gänzlich überbaut, die historisch gewachsene Idee eines urbanen Stadtplatzes geriet in Vergessenheit. Mit dem Siegerentwurf der Neugestaltung dieses Areals bleibt der Platz unter der DDR-Erinnerungskultur begraben.

Hier hätten die Verfahren bzw. die echten Stadtplaner in die Bürgerbeteiligung stärker eingreifen müssen. Stattdessen regieren hier grüne Vorstadtfantasien in einem Quartier, das als Erweiterung des Burgplatzes hätte verstanden werden können, nicht nur können sondern müssen; Banken, Arbeitsplätze, Fakultäten, Kaufhäuser und vielleicht im Aufgreifen der historischen Marktgeschehnisse auf dem Platz, auch Entwicklungspotenzial für Markttage, Stadtfeste, Oster- und Weihnachtsmärkte. Wie wir am Paulinum am Augustusplatz sehen können, hätte auch auf dem Matthäikirchhof durchaus Raum und Fantasie bieten können, die Matthäikirche in einem neuen Gewand wiederaufstehen zu lassen – als Gedenkzentrum mit einer Dauerausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums zur Platz- und Klostergeschichte sowie einer integrierten Heimstatt fürs Stasi-Akten-Archiv. Im Kontext der alten Straßen- und Wegeführung wäre Raum für verwinkelte Gassen, Höfe und kleine Plätze mit Brunnen durchaus vorhanden gewesen, der Nachtschwärmern in den Bars und Cafés Entfaltungsmöglichkeiten geboten hätte. Den düsteren Waschbetonbau der Stasi-Behörde hätten die entwerfenden Architekten direkt auf die Müllhalde der Geschichte werfen können. Stattdessen setzt der Siegerentwurf auf Bewahrungskultur dieses bösen Teils der deutschen Geschichte, welches besonders in Leipzig personell heute noch seine Fäden spinnt. Was auch fehlt im Siegerentwurf, ist ein Fokus auf das rege jüdische Leben des Alten Leipzigs, welches seit 1933/38 eine tiefe Zäsur durch die unmenschliche Nazipolitik erlitten hat und selbst in der DDR-Ära keine Würdigung erhielt.

Der Weg für die weitere gesichts- und geschichtslose Überbauung des einst so lebhaft gestalteten Matthäikirchhofs wurde durch die Entwidmung des Denkmalschutzstatus durch das Landesamt für Denkmalpflege frei. Und so wird kommen, was kommen muss; Leipzigs Filetstück wird künftig vom Steuerzahler finanziert anstatt künftige Einnahmen für die Stadtkasse dauerhaft zu erhalten und erst so kulturelles Leben möglich zu machen. Am Bürgerbeteiligungsverfahren für die Neugestaltung des Matthäikirchhofs zeigt sich, dass Bürgerbeteiligung eine Wunschveranstaltung ist, die eben auch mal echte Ziele verstellt. Und mit Hinblick auf die italienischen Wurzeln dieses Platzes – Stichwort: Barfüßerkloster, hätte Leipzig am Beispiel des Matthäikirchhofs ein bisschen mehr italienischen Geist walten können. Das hieße Innovation in der Platzgestaltung, Architektur und den Bauaufgaben von Baukultur; soziales Miteinander, ein Forum für Geschichte, kulturelle Angebote wechselnden Charakters, Wirtschaft und Erholung. Ein Blick auf den Süden Europas bleibt leider mit der Vorarbeit des Büros Riehle Koeth GmbH+Co. KG in Zusammenarbeit mit Levin Monsigny Landschaftsarchitekten verstellt. Schade.

Neue Grundschule im Leipziger Osten – Eilenburger Bahnhof wandelt erneut sein Antlitz

Daniel Thalheim

Leipzig baut. Wer 2023 von der Prager Straße zur Dresdner Straße fuhr, wurde einer neuen Baustelle gewahr. Auf dem Gelände des ehemaligen Eilenburger Bahnhofs, heute Lene-Voigt-Park genannt, wurde ein ehemaliges Bahnhofsgebäude entkernt bis nur die Außenhaut des einstigen spätklassizistischen Gebäudes stehen blieben. Es wurde gewühlt, gebaggert, gesichert und nun wieder aufgefüllt. Leipziger sollten genauer hinschauen, was hier passiert. Hier entsteht was neues. Die Wilhelm-Busch-Grundschule soll hier ein Zuhause finden.
Dieses Gelände ist, wie andere Gegenden, Regionen und Landschaften, ein Prägestempel der Industrialisierung und der verschiedenen politischen Systeme in Deutschland. Im Kaiserreich als Personenbahnhof für den Nahverkehr genutzt, später unter den Nazis ein Umschlagplatz für Zwangsarbeiter_Innen und ein Polizei- sowie Ausländergefängnis und in der DDR eine Barackenbrache mit Kindergarten, IT-Firma und wildem Bewuchs, ist an dieser Schnittstelle zwischen den Stadtteilen Reudnitz und Thonberg ein Naherholungspark entstanden.
Seit 1997 folgt die letzte Etappe einer bis 2026 anhaltenden Revitalisierungsserie, die einem Marathon gleicht.

Leipzig, Eilenburger Bahnhof, Entwurf, Aufriss der Hauptfassade mit Bezeichnungen, Richard Steche, um 1875. Feder, Pinsel in Wasserfarbe/Papier. 34,2 x 100,7 cm. Bez.: „HAUPTANSICHT (abfahrt) EMPFANGSGEBAEUDE LEIPZIG“ und unten rechts „Eilenburger Bahnhof“ (Bleistift, sekundär). Quelle: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

Was der Eilenburger Bahnhof einst war

Als in Leipzig die Industrie zu brummen anfing, vernetzte die Stadt sich mit den eisernen Adern der Eisenbahn. Der Eilenburger Bahnhof wurde 1874 als einer von fünf Bahnhöfen in der Messestadt errichtet. Von hier aus rollte der Personenverkehr ins Leipziger Umland und vor allem, wem wundert‘s, über Taucha nach Eilenburg. Zwei Jahre dauerte damals der Bau des Bahnhofgebäudes mit dazugehörigen Lokschuppen, Güterbahnhof und Gleisanlagen. Der Architekt, Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Richard Steche (1837-1893) entwarf das lang gestreckte Bahnhofsgebäude im Sinne des Spätklassizismus. Der Backsteinbau maß 150 Meter in der Länge und in der Breite 15 Meter. Der Nah- und Güterverkehr auf diesem Bahnhof hielt bis in den Zweiten Weltkrieg an bis er von Fliegerbomben 1942 gänzlich zerstört wurde. Das Bahnhofsgebäude diente von 1939 an bis 1942 zu diesem Zeitpunkt als Polizeigefängnis, Städtische Arbeitsanstalt und Durchgangslager für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Bis heute fehlt an der Stelle des heutigen Lene-Voigt-Parks eine Erinnerungsstätte für die schreckliche Zeit der Nazi-Herrschaft. Das Thema Zwangsarbeit reichte tief in die städtische Gesellschaft Leipzigs hinein und wurde v.a. in der DDR-Zeit verschwiegen. Von Bahnhöfen wie diesen fanden unter den Augen der Leipziger Bevölkerung neben den Transporten von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern auch Transporte in die Konzentrations- und Vernichtungslager statt.

Eilenburger Bahnhof, Ansicht von 1905. Quelle: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig.

Was der Lene-Voigt-Park sein soll

In der DDR zuckelten offiziell bis 1973 von kleinen Diesel- und Dampflokomotiven gezogene Güterwaggons in den noch vorhandenen Teil des Bahnhofs an der Riebeckbrücke. Teilweise wurden noch bis in die frühen 1980er Jahre kleine Transporte gesichtet. Ab 1974 wurden große Teile für den Bau von Baracken freigegeben, in denen u.a. eine Kindertagesstätte und ein IT-Zentrum bis 1990 ihr Zuhause fanden. Ab den 1990ern verwilderte die Industriebrache bis 1997 in der Leipziger Ratsversammlung die Revitalisierung des zehn Hektar großen Abschnitts zum Lene-Voigt-Park beschlossen und Stück um Stück in die 2000er Jahre umgesetzt wurde und bis 2026 mit dem Bau der Wilhelm Busch Grundschule fortgesetzt wird. Heute dient der Freizeitpark als Ort für sportliche aktive Menschen, bzw. für Menschen, die an diesem Fleck sich erholen möchten.

Wo heute noch die Außenmauern eines ehemaligen und denkmalgeschützten Güterabfertigungsgebäudes aus gelbem Backstein stehen, wird eine fünfzügige Grundschule entstehen. Seit Sommer 2023 finden hier umfangreiche Bauarbeiten statt. Die Wilhelm-Busch-Grundschule soll für 616 Schülerinnen und Schüler Entfaltungsmöglichkeiten bieten, wozu u.a. eine wettkampftaugliche Sechsfeldsporthalle mit 199 Zuschauerplätzen und Sport- und Freiflächen dienen sollen. Zum Jahresbeginn 2026 können die die Grundschüler sowohl Schule als auch Sporthalle eifrig nutzen. Barrierefreiheit wird integraler Bestandteils des Neubaus sein. Die Außenmauern des einstigen denkmalgeschützte Backsteingebäude Güterabfertigungsgebäudes mit Küche, Speisesaal und Mehrzweckraum wird künftig wohl auch für außerschulische Zwecke genutzt werden. Die Dachflächen aller Neubauten werden begrünt. Auch eine neue Kindertagesstätte soll hier entstehen.
Rund 57 Millionen Euro soll der Neubau kosten, von denen etwa 14,5 Millionen Euro aus dem Förderprogramm „Schulinfrastruktur“ kommen. Mit den planenden und ausführenden GMP Architektenbüro hat die Stadt Leipzig sich erfahrene Leute ins Boot geholt, die mit ihren Planungsentwürfen und ausgeführten Bauwerken weltweit klassische Moderne im Gefüge städtebaulicher historischer Kontexte stehen sehen, wie u.a. die Stadthalle in Magdeburg, das Gebäude des China Klubs in Berlin, das Kulturzentrum in Alsdorf, das Springer Quartier in Hamburg, das Neue Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen, das Parkhaus in der Hamburger Speicherstadt und das Steigenberger Hotel auf der Fleetinsel in Hamburg.

Wilhelm Busch Grundschule auf der Seite der Stadt Leipzig

GMP Architekten mit dem Schulneubau

Zum Thema Zwangsarbeit auf dem Eilenburger Bahnhof

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Fallen out of memories – Yim Young Ju shows urban landscapes with new exhibition at Galerie Potemka

Lu Potemka & Daniel Thalheim

In the exhibition „Memoryscape“ Yim Young Ju shows landscapes – the urban as well as the rural space. The starting point of the series is a „moon settlement“ in Incheon. Moon settlements are similar in appearance to German allotments, only without any vegetation to speak of. Basically, they are ghettos. The connotation with a rapid crime rate in the moon settlements, however, is not comparable with that of Germany: „I landed in Gwangju, in search of an artist supply store by chance in a moon settlement. There were hardly any people to be seen. I approached the first person I met and asked for an artist supply/frame maker (the man spoke no English, I spoke no Korean), I described what I was looking for with my hands and feet and, in doubt whether he had understood me correctly, was led to another place in the moon settlement. There I was introduced to another man, also with no knowledge of English, who again took me to another spot and so it went two more times. Neither of them could speak English and with each change of person and the way that went with it, I found it harder to find my way around. The matter began to get queasy. Finally I landed at the other edge of the moon settlement with a carpenter who could help me. These helpful men had understood what I was looking for and gave me their time, knowing that I would never find the carpenter alone. They were very courteous and polite people. I observed on this „excursion“ that many people in the Moon Settlement were doing crafts and repairs, and artists had their studios in and around the Moon Settlements, and unlike the (richer) neighborhood where my hotel was located, many elderly people also lived in the Moon Settlement.“

The Trauma of Satellite Cities

But back to Yim Young Ju. In the seventies, when he was a child, there were many workers living there, because South Korea was still a poor country. His parents both went to work in the city during the day. Yim Young Ju was left to his own devices and grew up with other children in the yards of the Moon Settlement. The places shown in the paintings are therefore personal, experienced and remembered places, „internalized places of human experience,“ as he himself describes it, where past and present coexist. In these residential areas exist absolute systems with their own rules, which he captures visually. He saw parallels to this in Lößnig, a Leipzig neighborhood that was his first stop in life in Leipzig. In the prefabricated buildings he found there, he draws a line to his life experiences in the Mondsiedlung, and this also made the urban landscape of Lößnig, as a German fringe society, attractive to him as pictorial content. Here, completely different levels of interpretation play their roles. In the forward-looking style of real existing socialism, housing estates in cities such as Leipzig, Berlin, Magdeburg, Karl-Marx-Stadt and Rostock were regarded as the highest urban planning and socio-social goal to be achieved in order to offer working people prosperity. If we already know these urban developments from the social-reform ideas of the late 18th and early 19th century. Within this historical framework, we know that these settlements provide and allow to develop their very own structures, up to the dystopia of exclusion, physical and psychological violence and escalation – the best example is given by the incidents in Rostock-Lichtenhagen, where Vietnamese guest workers were attacked and injured in their living quarters in a prefabricated housing estate in Rostock-Lichtenhagen by a mob radicalized by right-wing extremist ideas. The musicians of the British pop band Depeche Mode also describe their origins in a poverty-stricken satellite town near London as dreariness, as an experience of violence and filled with a coldness of feeling.
Yim Young Ju’s depictions of the landscape, however, are not about judgment. Marginalized societies exist in different milieus and institutions. Michel Foucault has assigned them the concept of „heterotropy,“ and the visualization of this is what the entire „Memoryscape“ cycle is about. Yim Young Ju selects according to the premise of whether a motif was part of his life or is part of his experience. He writes: „Heterotropy, to me, is different things that coexist in one place and can be interpreted ambiguously. We can’t (grasp) all these levels at the same time – but that’s what makes us human.“

Who is the artist?

Young Ju Yim was born in 1972 in Incheon, South Korea. He has lived and worked in Leipzig and Berlin since the early 2000s. He already studied B.F.A. Fine Art Education at IN HA University in Incheon from 1993 to 1998. From 2004 to 2009 he studied painting with Prof. Sighard Gille and Prof. Annette Schröter at the Academy of Visual Arts in Leipzig. Since then he has been working as an independent artist.
Yim Young Ju’s paintings reflect his personal worlds of experience in a very poetic way. The contexts he draws on often relate to social, philosophical and even religious issues. He takes on the role of an observer, i.e. instead of brutely shouting out the primal reasons of life, he remains genteel in his artistic presentation, without omitting anything, without concealing what he has experienced. His two-world experience plays a supporting role both in his pictorial language and in his choice of subjects.

Yim Young Ju
Memoryscape

Malerei 

Vernissage 6.10.2022

Ausstellung 7.10. – 17.12.2022

Galerie Potemka

Aurelienstr. 41

04177 Leipzig

Leipzig um 1900 – Die STIGA 1897

Was eine Industrieausstellung über eine Stadt aussagt

Daniel Thalheim

Als 1897 die Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung stattfand, befand sich Leipzig immer noch im Aufwind der Industrialisierung. Durch Eingemeindungen, Neusiedlungen und Zuwanderungen stieg die Messestadt in den Jahren nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zu den bevölkerungsreichsten Städten im damaligen Deutschland auf, bis sie vorm Ersten Weltkrieg die halbe Million und 1930 die Marke von 700.000 Einwohnern überschritt. Industrie und Gewerbe ließen Leipzig im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Wirtschaftsstandort entwickeln. Bereits im frühen 19. Jahrhundert begann die Entwicklung Leipzig von einem reinen Messe- und Handelszentrum hin zu einem der führenden Industriezentren in Mitteldeutschland, auch aufgrund der seit den 1830er Jahren eingerichteten Eisenbahnfernverbindungen mit seinen verschiedenen Bahnhöfen, die nach 1900 – bis auf den Eilenburger und den Bayrischen Bahnhof – zum Hauptbahnhof zusammengefasst worden sind. Hinzu wurden Ansiedelungen von metallverarbeitendem Gewerbe, chemischer Industrie, Textilverarbeitung, Baugewerbe, polygraphischem Gewerbe und Maschinenbau entwickelt. 

Vorläufer zur vielleicht letzten Industrie-Ausstellung dieses volkstümlichen Charakters fanden bereits in den 1830er Jahren in München, in den 1850er Jahren in London und in Leipzig statt. Eine Kunst- und Gewerbeausstellung ist für Leipzig aus dem Jahr 1879 überliefert. Vorm Hintergrund der großen Weltausstellungen in London und Paris betrachtet, mutet die STIGA von 1897 fast schon wie ein provinzieller Zwerg an. Der Schein täuscht; mag die STIGA vielleicht den ganz großen Playern nicht den Rang streitig gemacht haben, so strahlte die Leipziger Schau regional aus. Nicht zuletzt um die Werbetrommel für Leipzig als Wirtschaftsstandort zu rühren.

In diesem Zusammenhang betrachtet ergibt es Sinn, dass 1897 in Leipzig die Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung im großen Stil durchgeführt wurde. Die bereits 1894 der Öffentlichkeit vorgestellte Ausstellung bildete mit seinem robusten Charakter ungefähr das ab, was Leipzig als aufstrebender und expandierender Industriestandort aus Sicht der Organisatoren darstellen sollte; ein internationaler und moderner Knotenpunkt mit internationaler Prägung – und mit einer stark regionalen und nationalen Basis. Ihr ging in Erfurt 1894 eine Gewerbeausstellung ähnlichen Charakters voraus. Eine damals durchgeführte Umfrage stellte zudem aus Sicht der Organisatoren den Rang Leipzigs als Ausstellungsort für eine länderumfassende Gewerbe- und Industrieschau heraus, schon aufgrund der Leuchtturmfunktion Leipzigs als Industrie- und Gewerbeort. Doch aus was anderes fällt auf. Mit der Zusammenführung von anderen Bundesländern auf der STIGA 1897 erhebt Leipzig einen Anspruch auf eine gesamtdeutsche Perspektive. In Thüringen und Bayern fanden in den Jahren vor 1897 bereits erfolgreiche Industrieausstellungen und Gewerbeschauen statt. Der Leipziger Blick auf die gewerblichen und technologischen Entwicklungen schweift also weiter als sich nur auf Leipzig allein zu fokussieren.

Am 1. April 1894 konkretisierten sich die Pläne für eine große Industrieausstellung. Innerhalb eines Jahres sollte das Projekt STIGA stehen, was sich als illusorisch herausstellte. Aufgrund des hohen Pensums aus Organisation, Logistik und Realisierung entschieden die Organisatoren sich für 1897 als Austragungsjahr. 

Aus dem Ausstellungsführer 1897.

Einen anderen Anlass für die Verschiebung bildete der 400. Jahrestag der Verleihung des kaiserlichen Messeprivilegs für Leipzig als Reichsmesse durch den deutschen König und späteren Kaiser Maximilian I. (1458-1519). 

Ein weiterer Grund, warum Leipzig 1897 eine Gewerbeausstellung durchführen wollte, war die direkte Konkurrenz mit Berlin. In der Reichshauptstadt fand 1896 bereits eine große Gewerbeausstellung statt. Eine Mustermesse sollte folgen. In diesem Punkt stellte Leipzig 1895 seinen Messebetrieb von einer reinen Verkaufsmesse zur Mustermesse bereits um. Die Industrie- und Gewerbeausstellung von 1897 in der damals viertgrößten Stadt des Deutschen Reiches kann demnach als direkte Antwort auf die Berliner Gewerbeausstellung gesehen werden. In diesem Kontext lässt sich erahnen, wo und wie selbstbewusst Leipzig sich verortete.

Komitees und Fachausschüsse wurden gebildet. Geschäftsführend zeichneten sich Stadtrat Ludwig Heinrich Dodel, Kommerzienrat Ernst Mey, Fabrikbesitzer Otto Senig, Justizrat Ludolf Colditz, Stadtrat Max Ehmig, Kommerzienrat Ernst Kirchner, Stadtrat und Bankdirektor Max Messerschmidt, Stadtrat P. Schanz und Fabrikbesitzer Franz Waselewsky. 

Um das Ausstellungsprojekt zu realisieren wurde ein Garantiefonds ausgeschrieben, an dem die Öffentlichkeit teilnehmen konnte – mit Spenden. Über anderthalb Million Reichsmark Erlös erzielte die Sammlung. Die Stadtverwaltung überließ für die Ausstellung ein ca. 40 Hektar umfassendes Areal und zeichnete für den Garantiefonds eine Viertel Million Reichsmark. Der sächsische König Albert übernahm die Schirmherrschaft.

Im März 1895 erließ das Ausstellungskomitee ein Preisausschreiben für Baupläne für das Ausstellungsareal mit geeigneten Ausstellungsbauten. Schnell bildete sich eine Bauleitung aus Architekten, die um 1900 in Leipzig wirkten und für uns noch einige beeindruckende Bauwerke hinterließen. Darunter ist der namhafte Leipziger Jugendstilarchitekt Fritz Drechsler (1861-1922). Er schuf u.a. das Künstlerhaus Nikischplatz 1899, ein Thüringer Dorf für die STIGA 1897, sowie die Rathäuser in Schönefeld u. Paunsdorf 1904 u.1912, die Villa Seemann 1909 in Wächterstraße und an Ausstellungsgebäuden der Baufach-Ausstellung von 1913. Hans Enger (*um 1850 bis ca. 1920) wirkte in Leipzig in den Jahren von 1875 bis 1900. Er zeichnete sich u.a. für die Pläne der Neuen Börse und das Varieté auf der STIGA 1897 verantwortlich.  Heinrich Emil Franz Hannemann (ca. um 1855 – ca. 1904) wirkte von 1874 bis 1904 als Architekt in Leipzig und plante u.a. den Umbau des Hotels Fürstenhof 1889-1890. Der wenig beleuchtete Architekt August Hermann Schmidt (1858-1942) fand sich ebenfalls in der Planungsleitung der STIGA 1897 wieder. Ein Arthur Johlige (1857-1937) durfte auch nicht fehlen. Er war von 1888 bis1937 als Architekt und Baurat tätig. Er ist für seine Bauwerke Felsenkeller, Zill`s Tunnel, Centraltheater und das Konfektionshaus Franz Ebert bekannt. Heinrich Tscharmann (1859-1932, wirkte nach der STIGA 1897 v.a. in Dresden und plante in der Landeshauptstadt das Gebäude der Sächsische Staatskanzlei 1900-1904. 

Noch im selben Jahr fanden erste Vorarbeiten auf dem STIGA-Areal statt. Das Ausstellungsgebiet wurde in Abschnitte unterteilt, die um Länder Anhalt, Mark Brandenburg, Regierungsbezirk Liegnitz und drei fränkische Kreise des Königreichs Bayerns erweitert wurden.

Aus dem Ausstellungsführer 1897.

Wo fand die Ausstellung statt?

Der heutige Clara-Zetkin-Park würde ohne die STIGA 1897 wohl in dieser Form wie er uns sich jetzt präsentiert sich in einer anderen Gestalt zeigen. Das STIGA-Gelände erstreckte sich auf dem Areal das nach dem Abriss der Ausstellungsgebäude in den neu gestalteten König-Albert-Park und nach 1945 in den Clara-Zetkin-Park aufging. Das Ausstellungsgelände öffnete sich vom Haupteingang ausgehend vom heutigen Herzliya-Platz wo Karl-Tauchnitz-Straße, Edward-Grieg-Allee- und Beethovenstraße aufeinander stoßen. Mit dem Hauptweg, die heutige Anton-Bruckner-Allee, konnten die Besucher entlang des heute noch existierenden Wasserbassins mit seiner Wasserfontäne zu den Ausstellungsgebäuden flanieren. Auch der heute noch erhaltene Inselteich gehörte 1897 zu den Schaustücken der Ausstellung. Über die Sachsenbrücke gelangten die Besucher – den Planungen zufolge – auf das eigentliche Ausstellungsgelände mit u.a der großen Industrie- und Maschinenhalle mit ihren vielen eingefassten Firmen- und Gewerberäumen, der Ausstellungshalle der Stadt Leipzig, einer Nachbildung des Altleipziger Messviertels, dem Thüringer Dörfchen, einer von Franz Hannemann entworfenen Ausstellungshalle für hunderte ausstellende Maler, Bildhauer und Grafiker, einer Gartenhalle und einem Vergnügungsviertel. 

Aus dem Ausstellungsführer 1897.

Die Gebäude der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung

Neben den eigens zu ihrem Zweck errichteten Ausstellungsgebäuden beanspruchen Parkanlagen, Dorf- und Stadtnachbildungen, Plätze und Teiche einen Großteil des Areals. 

Über den Haupteingang, ein von zwei 40 Meter hohen flankierten und mit Wappen der teilnehmenden Bundesländer geschmückten Bauwerk gelangten die Besucher in den Kassenbereich. Außerhalb des vom Architekt Heinrich Tscharmann entworfenen und vom Leipziger Bildhauer Johannes Hartmann mit einer weiblichen Musenfigur geschmückten Bauwerks befand sich eine kostenpflichtige Unterbringungsmöglichkeit für Fahrräder. Im Eingangsgebäude befanden sich die Veranstalterbüros, Garderoben und Wachstuben.

Altleipzig

Um die Zeit um 1500 zu veranschaulichen erstreckte sich neben dem Haupteingang die kulissenartige sowie künstlerisch frei gestaltete Nachbildung des von Heinrich Tscharmann geplanten Altleipziger Messviertels rund um Naschmarkt und Auerbachs Hof. Damals war eine werkgetreue Nachbildung des Kernbereichs der Leipziger Altstadt im Jahr der Messebestätigung 1497 aufgrund fehlender archäologischer Befundung und historischer Überlieferung nicht möglich gewesen, heißt es im Ausstellungsführer von 1897. Die Organisatoren ließen die Situation um 1555 nachbilden. Daher wurde die 1551 begonnenen Neubildung der historischen und bald nach diesem Ereignis abgerissenen originalen Pleißenburg unter Kurfürst Moritz von Sachsen den Besuchern gezeigt. Gestalterisch wurden aus der Leipziger Altstadt ebenfalls nach freier Auswahl verschiedene Bauwerke und ihren Teilen historischen Vorbilden freizügig entlehnt und nachgebildet. Viele der historischen Vorbilder waren bereits schon damals Neubauten gewichen, wie das Beguinenhaus. Aus dem historischen Gebäude wurde auf dem Ausstellungsgelände eine Bierstube mit Ausschank der Brauerei Petrikowsky aus Oelzschau gemacht und als „Zum Alten Strohsack“ bezeichnet, um einen historischen Wert in der zum Potemkinschen Dorf verwandelten Altstadtkulisse zu veranschaulichen.

Aus dem Ausstellungsführer 1897.

An der Ausgestaltung des Auerbachs Hof hielten sich die Organisatoren und Architekten an historischen Stichen, um ein historisches Bild dieser Gegend wiedergeben zu können. Um tatsächlich das Flair vom Auerbachs Keller zu erhalten, mussten die Besucher sich doch am Original bemühen, denn statt des berühmten Lokals aus Goethes Verswerks „Faust“ befand sich in seiner Ausstellungskulisse 1897 eine Cognac-Brennerei aus Dresden mit Trinkstube. Wer den historischen Ausstellungsführer liest, erhält den Gedanken, dass den Ausstellungsmachern nicht daran gelegen war, die Altstadtsituation historisch getreu wiederzugeben, sondern den ästhetischen Wert verschiedener Bauwerke zusammenzuführen, um für eine klassische Eventgastronomie, wie z.B. für Cafés, Räume zu bieten. So geschehen auch in der Nachbildung des Alten Rathauses, wo eine Brauereistube mit Ausschank für Bamberger Bier, dem „Frankenbräu“, eingerichtet wurde.

Gas, Wasser, … Kunst

Neben der Kulissenstadt erreichten die Besucher die von Fritz Drechsler geplanten Gartenbauhalle, wo sie in nacheinander folgenden Gartenbauausstellungen von April bis September 1897 Briefmarken, Jagdtrophäen, Handarbeiten, Amateurfotografien bestaunen durften.

Die direkt sich an diesem Haus anschließende und von Franz Hannemann entworfene Kunsthalle beherbergte auf 2000 QM Grundfläche Kunstwerke von namhaften Malern, Bildhauern und Grafikern wie Hugo König (1856-1899), Fritz von Uhde (1848-1911), Max Klinger (1857-1920), Max Thedy (1858-1924), Curt Stöving (1863-1939), Anton von Werner (1843-1915), Hugo Vogel (1855-1934), Carl Köpping (1848-1914), Friedrich Preller d.J. (1838-1901) u.v.a.m.

Im Gebäude selbst konnten die Kunstinteressierten eine Sonderschau von Max Klinger bestaunen, der 1897 das damals Aufsehen erregende Bild „Christus im Olymp“ neben anderen Werken ausstellte. In der Industriehalle wurden Besucher der lebensgroßen Statue des Buchdruckers Johannes Gutenberg (um 1400 bis 1468) gewahr, von Josef Magr (1861-1924) geschaffen.

Die nach den Entwürfen von Hans Enger entstandene Textilhalle bot damals auf über zweitausend Quadratmetern Raum für die neuesten technischen Anlagen sowie für die damals gehandhabten Fabrikationsprozesse. In der Halle für Landwirtschaft, Sport und Hygiene wurden neben landwirtschaftlichen Maschinen, auch Geräte und Erzeugnisse aus der Fischereiwirtschaft und Honigproduktion gezeigt. Im sportlichen Bereich dominierten Jagd-, Schieß- und Fahrsport.

Die Halle für Gas- und Wasserwirtschaft fasste eine Ausstellung zu den städtischen Gasanstalten Leipzig ein, sowie die damals in Leipzig vertretene Thüringischen Gasgesellschaft. Neueste Apparaturen und Technik aus diesen beiden Wirtschaftszweigen wurden durch Vereine udn Firmen ebenfalls dem Publikum vorgestellt. Das schloss  auch die Gewerbezweige der Glasindustrie, der Eisenfabrikation, Verhüttung, Maschinenbau bis hin zur Badezimmereinrichtung mit ein. Vor dieser Halle befand sich ein Rundbau worin sich das Klinger-Gemälde „Kreuzigung Christi“ befand.

Aus dem Ausstellungsführer 1897.

Und das Kulinarische?

Vor den Augen des Publikums wurden in einem Privatpavillon der Fleischerei Nietzschmann-Wommer Fleisch- und Wurstwaren hergestellt, Verkostung und Verkauf inklusive. Die Gohliser Aktien-Brauerei beteiligte sich an den Verkostungen indem sie an die Besucher Bier zu ihrer Mahlzeit ausschenkte. Natürlich wurden auch in diesem Fleischereipavillon die neuesten Produktionsgeräte gezeigt.

In einem weiteren Pavillon stellte die königlich-sächsische Hofmundbäckerei Gerasch  Maschinen und Gerätschaften zur Herstellung von Brot, Brötchen, Kuchen und Gebäck vor.

Wie eine Stadtverwaltung werkelt

Die Ausstellungshalle der Stadt Leipzig bot Raum für die neuesten Bebauungspläne der städtischen Bauverwaltungen, insbesondere die Pläne des Stadtbaumeisters Hugo Licht, der sich für die Planungen und die ästhetische Gestaltungen des Grassi-Museums, des Neuen Rathauses, des Städtischen Kaufhauses, des Umbaus der Johannis-Kirche, Leipziger Markthalle, des Städtischen Museums, verschiedener Polizeigebäude, Kasernen in Möckern und eines Schlachthofs auszeichnete. Die Leipziger Verwaltungen zeigten welche Verwaltungsabläufe und -zweige und auf welche Weise sie getätigt wurden. So konnten bspw. Besucher sehen wie die Klassenzimmer der Leipziger Volksschulen ausgestattet waren, oder wie das statistische Amt Statistiken ermittelt. Die „exotische“ bzw. geschmäcklerische Rahmung bildete u.a. ein „Negerdorf“ mit Ostafrikaausstellung: Rassismus im Zuge des Kolonialismus war in den USA und in Europa um 1900 allgegenwärtig. Auch in Leipzig fanden „Völkerschauen“ bspw. im Leipziger Zoologischen Garten statt. Ein Rummelplatz lag damals, neben einem Café und anderen gastronomischen Einrichtungen, in erreichbarer Nähe zur Bantu-Siedlung und Ostafrikaausstellung auf dem Veranstaltungsgelände; der Schauwert glich damals einer Sensationskultur, die so tief im Bildungsbürgertum verankert war, wie die aufgewärmte Bockwurst in der Proletarierhand. Dem Geschmack sind offenbar keine Grenzen gesetzt gewesen. Ein Grund mehr, diese kolonialen und kulturellen Hintergründe stärker im Kontext zu beleuchten zu lassen anstatt sie zu verdrängen oder zu verbieten. Die Laufmeter an Literatur zum Kolonialismus in Europa werfen genug Material ab, das Thema nicht zu verleugnen oder zu verdammen.

Schauwert und Nachhaltigkeit

Sehen wir von den Ausstellungsmessen während der STIGA 1897 ab, war diese Schau vorrangig von Unterhaltungswerten geprägt; Nachbildungen von Burgen, Dörfchen, ein astronomischer Blick in die „blaue Kugel“, Lichtinszenierungen, Krystall-Palast-Variété, Spiegelkabinett, Rutschbahn, Bootsfahrten, Musik, ein von Carl Hagenbeck (1844-1913) nachgebildetes Eisweltpanorama mit Tieren und als Inuit verkleidete Tierpfleger, Ballonfahrten, eine Kneipenmeile, Tiroler Bergfahrt (wenigstens vorm gemalten Diorama vom britischen Maler Edward Theodore Compton (1849-1921)) und zur Schau gestellter Kolonialismus lockten das Publikum ebenso an wie die über 3000 Aussteller in den Hallen. 

Die Mischung aus Rummel und die künftige Ausgestaltung von Mustermessen war für die damaligen Menschen sicher ein Novum. Eine Neuerung war es auch, den technischen Fortschritt um 1900 anschaulich zu vermitteln. Ohne kulturelle Flankierung und rassistischem Menschenzoo ging es damals nicht, um die Menschen von den technischen Leistungen zu überzeugen, geschweige Besucher erst anzulocken. Wenngleich die Mustermesse als solches 1895 in Leipzig etabliert wurde, war die STIGA ein Monstrum aus Vergnügungspark und neuem Verständnis des Handels- und Industriebürgertums. Mit der offiziellen Etablierung der Mustermesse fielen Aufwand und Logistik für Verkaufswaren weg. Mit Mustern, also Beispielen der vorgestellten Produkte, wurde für die industriell erzeugten Geräte, Maschinen und Errungenschaften um Kundschaft geworben. Gerade im Hinblick auf die Entwicklung von technischen Geräten und Maschinen größerer Art erleichterte sich die Produktvorstellung immens, und der damit verbundene Verkauf.

Die STIGA 1897 sollte vorerst die letzte Veranstaltung dieser Größenordnung sein. Letztlich sollte die STIGA mit seinem kulturellen Rahmen die Laien zum Staunen bringen, wenn bspw. ein Fesselballon 500 Meter in die Höhe steigt und einen Blick über Leipzig und das Leipziger Land ermöglichte; für damalige Menschen mindestens genauso aufregend und neu wie der knapp ein Kilometer messende Wolkenkratzer Burj Khalifa im Emirat Dubai heute. Überlegen wir, dass das von Clément Ader von 1894 bis 1897 entwickelte und fledermausartige Flugzeug Ader Éole lediglich über den Boden hüpfte, muss eine Ballonfahrt eine Sensation für unsere Urgroßeltern gewesen sein. 

Letztlich sollte der technische Fortschritt der kommenden Jahre bis zum Kriegsausbruch 1914 die Bedeutung der STIGA merklich schwinden lassen bis es fast aus dem Gedächtnis der Leipziger verschwand. An ihrer Stelle traten die uns bekannten Mustermessen. Lediglich die Internationale Baufachmesse (IBA) 1913 und die Buchgewerbe- und Graphikmesse (BUGRA) 1914 bilden einen ähnlich spektakulären Rahmen wie die STIGA von 1897.

Bis die Betreiber des Leipziger Musikpavillons die Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung von 1897 mit ihrer Recherchearbeit in ihrem Veranstaltungsmagazin 2017 wieder ans Licht holten, befand sich die Erinnerungskultur um die STIGA beinahe im Dornröschenschlaf. Im März 2022 gab das Stadtarchiv Leipzig bekannt, dass die Angaben zu den Akten zur Planung und Ausgestaltung des einstigen Vergnügungsparks mit Ausstellungscharakter im Internet frei verfügbar sind. Natürlich nicht die Dokumente selbst, die muss der Interessent schon vor Ort ordern und persönlich einsehen. In diesem Jahr wird der STIGA anlässlich ihres 125. Jubiläums von der Stadt Leipzig mit einer Webseite und verschiedenen Veranstaltungen, u.a. im Kunstkraftwerk und im Museum der bildenden Künste, bedacht. Im MdbK widmen sich die Kuratoren mit einem unbekannten Aspekt der Kunst um 1900; weibliche Künstlerinnen auf der STIGA Kunstausstellung. Das Forschungsfeld ist dahingehend noch mit weißen Flecken durchsetzt, sehen wir aber an einer Künstlerin wie Käthe Kollwitz, dass Frauen in der Wilhelminischen Epoche in der Lage waren, sich künstlerisch zu entfalten und zu emanzipieren.

Zur Informationsseite der Stadt Leipzig zur STIGA 1897.

Kunsthandwerklicher Reformstil – Die Kulturstiftung Leipzig will sich mit einer Ausstellung mit dem Design der Zwanzigerjahre auseinandersetzen

Daniel Thalheim

Seit Mitte November können kunsthistorisch Interessierte sich in die Ausstellungsräume der Kulturstiftung Leipzig begeben und sich mit den individuellen Positionen und Haltungen der Designer und Architekten der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen. Dabei dreht sich das Thema um die Frage, wie und wo der seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts eingeführte Begriff Art Déco zu verorten und zu definieren ist. Basis der Ausstellung bildet das 2019 veröffentlichte Buch „Art Déco – Architektur der Goldenen Zwanziger in Leipzig“ von Wolfgang Hocquél.

Das Design der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre wurde von einem Formen- und Erfindungsreichtum geprägt, der damals als „neu“, „absonderlich“ und „ausdruckshaft“ beschrieben wurde. Abstrahierte Spitzbögen, zackig ausgeführte Band-, Rauten- und Wellenmuster, überhöhte Farbigkeit und auf das Wesentliche herunter gebrochene Dekorformen an Fassaden und in Innenräumen und im Wohn- sowie Möbeldesign tauchten nach 1925 scheinbar plötzlich auch in Leipzig auf, und verschwanden ebenso schnell wieder. Das ist nicht ganz richtig. Die Metaebene wurde für das u.a. in Leipzig verbauten Designformen bereits vorm Ersten Weltkrieg europaweit gebildet.

Begriffsgeschichtlich ist „Art Déco“ ein Missverständnis und ein Marketingtrick. Wohingegen nach der Pariser Ausstellung zu den kunsthandwerklichen und industriell hergestellten Designformen („Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes“) 1925 sich das Design der Reformbewegungen nach 1890 bis zum Ersten Weltkrieg zu einem von Ostasien beeinflussten Modetrend im Bauen und Design der Zwanzigerjahre verbreitete und einflussgebend auch im handwerklichen Bereich u.a. auch in Deutschland erwies, wurde nach der Neuauflage der selben Ausstellung 1966 („Les Années 25 – Art déco, Bauhaus, Stijl, Esprit Nouveau“) der Begriff „Art Déco“ in den Umlauf gebracht. Eigentlich eine Verlegenheit, um zu beschreiben, was in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts geschah. Ein Quellenbegriff ist „Art Déco“ so gesehen nicht, wenngleich er sich von einem Part des Ausstellungstitel „L‘art décoratif“ ableitet, einer in Frankreich geläufigen Bezeichnung für kunsthandwerkliche Arbeiten allgemein, wie in England es mit „Arts & Crafts“ und im deutschsprachigen Raum für „Kunsthandwerk“ geläufig ist. Seit 1966 – u.a. ausgehend von einem Artikel des Journalisten Hillary Gelson – setzte sich „Art Déco“ zunächst im US-amerikanischen Raum durch, um die Designentwicklung in den USA zunächst zu beschreiben und um Rückgriffe auf europäische Trends im Fin-de-Síecle zu unternehmen. In den folgenden Jahrzehnten breitete sich der Begriff u.a. durch Publikationen von Norbert Wolf auch in Deutschland aus. Nach der Wiedervereinigung 1990 war „Art Déco“ eher noch als Flohmarktsbegriff für Gegenstände aus den Zwanzigerjahren üblich. Auch darüber vergessend wie individuell Designer und Handwerker Formen, Farben und Designs einsetzten und eklektisch mit anderen stilepochal zugeordneten Designs zusammenpackten und vermischten. So entstanden eigenwillige Mischungen aus vermeintlichem „Barock“ und sogenannter Moderne, schwer zuordenbar für zeitgenössische Beobachter. Begriffe wie „Jazz Age“, „Modern Rokoko“ und „Modern Style“ tauchen in den zeitgenössischen Magazinen und Diskussionen auf. Von der expressiven Versachlichung von Bauschmuckformen wie wir sie in den USA sehen können sind die in Leipzig verwendeten Designs jedoch weit entfernt.

Auch die Formulierung, dass die Materialverwendungen von edlen Metallen sowie Stoffen und qualitativ hochwertigen Verarbeitungstechniken samt Resultaten für das „Art Déco“ typisch wären, ist ein Allgemeinplatz, der für alle Zeitalter zurückgehend bis in die Bandkeramikkulturen vor 20.000 Jahren gelten könnte, frühestens in den antiken Hochkulturen Mesopotamiens und dem heutigen Staatsgebiet von Ägypten zu Tage traten. Zackig geformte Wellen- und Bandformen, expressive Farbigkeit, wertvoll verarbeitete Stoffe wie Bronze und Gold als eine Typologie für das „Art Déco“ zu beschreiben, täuscht über das Bestreben des Individuellen in der Klassischen Moderne hinweg. So verkennt man mit diesem Begriff die kreative Kraft der Handwerker und Kunsthandwerker, die aufgrund lockerer Bauregelungen eine freie Hand zur Gestaltung von bspw. Treppenhäusern und Einrichtungsgegenständen besaßen. Auch vergisst man darüber, dass Handwerker, v.a. im Rahmen von Gesellen- und Meisterprüfungen, u.a. auch an Kunsthochschulen ausgebildet wurden.

So verstellt der Begriff „Art Déco“ den Blick auf die Vorgehensweise von Handwerksbetrieben. Oftmals wurden Farbigkeiten und Design sowie Ausstattung im Hinblick auf öffentlich zugängliche Repräsentationsgebäuden vom entwerfenden Architekt vorgegeben, im Fall des Wohnungsbaus in Leipzig ist u.a. von Sachsens erstem Denkmalschützer Cornelius Gurlitt bereits Ende des 19. Jahrhunderts bekannt, wie individuell Leipzigs Handwerksmeister und Architekten bekannte Formenvorgaben an Fassaden und in Treppenhäusern verwendeten und wie abstoßend er diesen Individualismus empfand. In diesem Bezug müsste die Entstehung der Klassischen Moderne generell neu gedacht werden; wahrscheinlich bildete der eigentümliche Individualismus und eklektische Wille von Handwerksmeistern im Hinblick auf kunstepochale Zusammenhänge und ihrer Vermischung den kunterbunten Kreißsaal der Designentwicklung des 20. Jahrhunderts. Das Herabzählen von Beispielen wie der 1939 komplett zerstörten Trauerfeierhalle von Wilhelm Haller, das Gemeindehaus in Böhlitz-Ehrenberg, das von Alfred Brumme eine dekorative Innengestaltung um 1927-28 erfuhr, die Friedhofskapelle an der Meusdorfer Straße in Leipzig-Connewitz, das Gemeindehaus in Leipzig-Connewitz, die Versöhnungskirche in Leipzig-Gohlis, St. Bonifatius in Leipzig-Connewitz und das eklektisch aus verschiedenen Stilelementen und -epochen bestehende Innendekor des Hauses W. Schlobach-Pommer in Böhlitz-Ehrenberg, demonstriert wie unterschiedlich sich die künstlerischen Positionen innerhalb einer Stadt mit einer entstehenden Moderne rückkoppelten und sich als individualistisch verstanden.

Eine andere Entwicklung geben Designer wie Charles Rennie Mackintosh (England) und Josef Hofmann (Österreich) um 1900 vor.  Daher ist der beworbene Begriff „Luxusstil aus Paris“ nicht nur historisch falsch, sondern auch leider falsch definiert, und komplett unwissenschaftlich. Zu leicht setzen Begriffe wie „Art Déco“ und „Bauhaus“ Allgemeinplätze in unsere Köpfe fest, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Entwicklungen des Designs und Kunsthandwerks im 20. Jahrhundert unvoreingenommen, ohne Wertung und ohne Filter, erschweren. 

ART DÉCO – EIN LUXUSSTIL AUS PARIS

Bis 31.01.2022

Kirchen erzählen Geschichte – Was von der St. Jacobi-Kirche in Chemnitz übrig blieb

Daniel Thalheim

Wer heute an der Chemnitzer Jacobi-Kirche vorbei geht, wird einer reichen und lange zurück gehenden Baugeschichte gewahr. Vielleicht ist diese Baugeschichte nicht für jedermann sofort ersichtlich, weil der Leipziger Architekt Hugo Altendorff im ausgehenden 19. Jahrhundert bauliche Überformungen vorgenommen hatte. Vielleicht auch, weil die Kirche in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs stark zerstört wurde. Dass die Jacobskirche im Kern auf hochmittelalterliche Anfänge zurück geht, kann man größtenteils auf Grabungsbefunde aus der Mitte des 20. Jahrhunderts nachvollziehen. Auch neuere Anbauten aus dem 13. Jahrhundert werden durch den Blick in die Akten ersichtlich. Im 14. und 15. Jahrhundert erfuhr die Kirche weitere bauliche Änderungen. Kriege und Brände fraßen an der Substanz der Jacobikirche weiter und führten so weitere Überformungen herbei. So wurde 1792 der spätgotische Hochaltar abgebrochen und durch ein klassizistischen Altar ersetzt. Von diesem verabschiedete sich die Kirchgemeinde knapp fünfzig Jahre später. Wiederum zwanzig Jahre später, um 1875 läutete der Leipziger Architekt Hugo Altendorff die umfassendste Neugestaltung des Äußeren ein; im reich mit Bauornamenten versehenen „neugotischen“ Stil nach Vorbild von Kathedralen der Ile de France. Auch einen neuen Hochaltar entwarf der Architekt. Bis auch dieser Umbauten und Kriegszerstörungen zum Opfer fiel, die Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg bis ins frühe 21. Jahrhundert in Etappen weitestgehend neu rekonstruiert wiederauferstand.

Die Umbauten von Hugo Altendorff werfen einen Blick in die historistische Umgestaltung von St. Jacobi

Hugo Altendorff gehörte zu den fleißigen Baumeistern, die ihr Werk schriftlich festhielten und ihre Umbauten erklärten, aber auf diese Weise auch die Umstände der Umbauphasen dokumentierten. Als Altendorff beauftragt wurde, die Jacobikirche in ihrem äußeren Erscheinungsbild jenem Stil anzupassen, den damalige Menschen und heutige Zeitgenossen gern als Gotik – einem im 19. Jahrhundert negativ konnotierten Begriff, der die mittelalterliche Baukunst, die im übrigen infolge den von Europäern durchgeführten Kreuzzüge, von der islamischen Baukunst in Syrien beeinflusst war und rein gar nichts mit der indo-germanischen Volksgruppe der „Goten“ zu tun hatte – bezeichnen, stellte er für Chemnitz nur wenige bemerkenswerte Bauwerke fest, würden wir von den zahlreichen Industrieanlagen absehen. Als einzige mittelalterliche Inkunabel galt für ihn die Jacobikirche. Sie stand seinen Informationen nach mit einem nahegelegenen und inzwischen abgerissenen Kloster in Verbindung. Auch ohne Ausgrabungsbefunde stellte der Leipziger Architekt fest, dass er aus den damals ihm sichtbaren Gebäudeteilen, wie z.B. am Chor, eine Entstehungszeit im frühen 13. und im späten 13. Jahrhundert ablesen könne.

So sah die Westfront von St. Jacobi in Chemnitz vor den Umbauten von H. Altendorff 1878-79 aus. Quelle: CHristliches Kunstblatt 1879.

Das Langhaus und das später eingezogene Gewölbe datierte der Baumeister ebenfalls recht genau ins ausgehende Mittelalter, ins 14. Jahrhundert. Dass der Hallenumgangchor im frühen 15. Jahrhundert erbaut wurde, stellte der Baumeister in seiner 1879 im Christlichen Kunstblatt festgehaltenen Schrift ebenfalls fest. Aus welchen quellenkundlichen Befunden der Architekt sein Wissen bezog lässt er uns im Unklaren. Er wird wahrscheinlich, wie spätere Forscher auch, die Akten des Kirchengemeindenarchivs genutzt haben. Dennoch neigen heutige Forscher derartige Feststellungen wenig Bedeutung beizumessen und sich einzig und allein auf wissenschaftliche Methoden zu verlassen, die uns weder über Handwerksgeist und Handwerkskunst Auskunft geben – weil allzuschnell eben auch Handwerksquittungen und -belege kassatiert werden – noch über die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die zur Errichtung und zu den Umbauten führten. Die Archive füllen sich dahingehend viel zu schnell. Gerade bei so einer langen Bau- und Umgestaltungszeit wie an einer Kirche wie der St- Jacobi in Chemnitz, an der wir einen Zeitraum von mindestens 800 Jahre festlegen müssen. Umso leichter war es offenkundig auch für Altendorff seine Interpretation von mittelalterlichem Kirchenbau und Kirchendesign auf St. Jacobi aus dem Französischen zu übertragen, obwohl historisch betrachtet auch seine Interpretation des hochmittelalterlichen und vom „Heiligen Land“ beeinflussten Baustils absolut falsch für den Baustil der als Sachsen bezeichneten Gegend ist. Doch der Wunsch der Auftraggeber war, die Kirche von Altendorff – inzwischen ein bekannter Vertreter der im ausgehenden 19. Jahrhundert in Mode kommenden „Gotik“ und ihrer Neuausformung als nationales Stilgepräge in Abgrenzung vom französisch geprägten Klassizismus und ihrer Ausformungen – neu gestalten zu lassen.
1876 erhielt er hierzu den Auftrag. Im selben Jahr erstellte er die ersten Entwürfe und Pläne. 1877 begannen die Umbauarbeiten. An diesem Punkt hinterließ Altendorff ein Zerstörungswerk. Er ließ alte Anbauten abbrechen und bezeichnete seine Neuinterpretation des mittelalterlichen Bauens als „Wiederherstellung“. Dazu zählen Dachreiter und Dachwerk über dem Chor, die durch Brände mehrfach beschädigt und neu errichtet werden mussten. Altendorffs Abbrucharbeiten beschränkten sich zunächst auf die Dachlandschaft der Kirche. Er gestaltete sie im Sinne der „Gotik“ um. 1878 folgten die Fassaden. Er ließ der schlichten Fassade in seinem Sinne Fialen, Kreuzblumen und Brüstungswerk hinzufügen, die wahrscheinlich nie in dieser Gestalt als Bauschmuck verwendet wurden. Er ließ daher auch die einst sich schlicht darbietende Westfassade mit Maßwerk reich ausfüllen, inklusive Lutherrose – einem Sinnbild, der freilich nichts mit dem Hochmittelalter zu tun hat und wenngleich auch nichts mit sogenannten spätgotischen Schmuckformen.

Das ist der Entwurf von H. Altendorff zur Westfassade von St. Jacobi in CHemnitz 1878, Foto: Christliches Kunstblatt 1879.

Auch die überlebensgroßen Standbilder der Apostel Jacobus, Petrus, Johannes und Paulus haben nicht viel mit der Gotik zu tun. Im Eifer eines vermeintlichen Restaurators, der wie ein Interpret eines vermeintlichen Stils ans Werk ging wie jene Dame, die ein Jesusporträt in ein gruseliges Monchichi verwandelt hatte, schmückte Altendorff auch das Innere der Kirche im vermeintlich gotischen Stil aus ohne sich je einer archäologisch-restauratorischen Befundung hingegeben zu haben, wie etwa einen Vergleich aus anderen nordwestsächsichen Raum wie in Pomßen und Klinga , bzw. auch der Gestaltung der Augustinerchorherrenkirche in Wechselburg zu Rate gezogen zu haben. Das betrifft auch die neu eingesetzten Buntglasfenster des Chores sowie der inzwischen wieder abgebrochene Hochaltar. 250.000 Reichsmark wurden eigens von der Stadt Chemnitz als Kredit zur Deckung für die Baukosten aufgenommen, weil die Kirchgemeinde diesen Betrag nicht zu stemmen vermochte. Altendorff hielt seine Umbauten für die beste Interpretation, die der Kirche Ehre gereichen würde – die Nachwelt sieht da sein wenig anders.

Von Altendorffs Umbauten ist kaum etwas noch vorhanden

Ein im März 1945 erfolgter Bombenangriff auf Chemnitz hinterließ seine tiefen Narben am Gotteshaus, so dass auch Altendorffs Umbauten nahezu vollständig vernichtet wurden. Lediglich an der Außenhaut, v.a. an der Westseite, sehen wir die Apostelfiguren aus der 1870er Jahren. Die Fassade selbst wurde schon vor 1914 vom Historismus Altendorffs befreit und einer strengen Vertikalität unterworfen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte ein Schritt für Schritt behutsames und denkmalpflegerisches Herantasten an das Kirchengebäude, wenn auch vieles auch als neu ersichtlich ist. Das geschah u.a. mit dem Einsetzen neuer Schlusssteine und am, mit einer Spritzbetontechnik, neu eingezogenen Gewölbe im Langhaus. Die wenigen erhaltenen originalen Schlusssteine wurden restauriert und wieder eingesetzt. Bei 2012 erfolgten Restaurierungsarbeiten im südwestlichen Seitenschiffjoch wurden Fragmente eines original erhaltenen Blendmaßwerks inklusive Bemalung entdeckt. Diese Fragmente verschwanden hinter dem 1557 erfolgten Einbau der doppelgeschossigen Empore. Die unvollständig erhaltene Kanzel aus der Renaissancezeit stammt aus der Leubener Kirche, die 1905 abgebrochen wurde. Der 1504 von Peter Breuer geschaffene Flügelaltar wurde ursprünglich für die Chemnitzer Johanniskirche geschaffen und um 1970 aus ausgelagerten und nur teilweise vorhandenen und um neue Partien ergänzten Einzelteilen neu zusammengesetzt und in der Jacobikirche aufgestellt. Auch der um 1600 geschaffene Taufstein stammt nicht aus der Jacobikirche, sondern wahrscheinlich aus einer abgebrochenen Dorfkirche aus dem Dresdner Raum. Das Geläut besteht aus einer noch aus der Mitte des 18. Jahrhundert hergestellten Glocke und drei neuen Glocken von 1966. Mit dieser Kirche hat über mehrere Jahrzehnte die sächsische Denkmalpflege ganze Arbeit geleistet.

Leipzigs Orte erzählen Geschichten – Wie es dem Rittergut in Dölitz erging

Daniel Thalheim

Wer sich heutzutage südlich von Connewitz verliert, landet meist auf dem agra-Gelände. Der Besucher ahnt nicht, dass diese sozialistisch geprägte Landschaftsgestaltung noch vor einhundert Jahren ländlich, idyllisch und dörflich sich in die Auwaldlandschaft einschmiegte. Das Wasserschloss und Rittergut von Dölitz gehörte neben der verloren gegangenen Dorfkirche zu den Lichtpunkten dieser Gegend. Nur das noch bestehende Torhaus nebst ehemaligen Wirtschaftsgebäuden und die ehemalige Schlossmühle können wir noch sehen.

Anhand von Fotos und Akten sichtbar – das Rittergut der Familien Crostewitz und Winckler

Wer sich mit dem lauschigen Ort beschäftigen will, muss in die staubigen Akten einsteigen. Nur so wird die Geschichte zum Gelände des heutigen Torhauses Dölitz deutlich. Mitte des 13. Jahrhunderts wird das Rittergut urkundlich erstmals erwähnt. Die Familie von Crostewitz richtete sich Mitte des 15. Jahrhunderts ein Renaissanceschloss ein. Um 1451 war ein gewisser Andreas von Crostewitz Besitzer des Gutes. Der Besitz ging auf seinen Sohn Thomas von Crostewitz über, der von 1501 bis 1540 das Gut verwaltete. Bis 1636 blieb das Gut in der Familie bis es im selben Jahr an den Leipziger Händler Georg Winkler (1582-1654) verkauft wurde. 1652 wurde die Familie zum Adelsstand erhoben. Sie nannten sich fortan Winckler von Dölitz. Als sie Mitte des 18. Jahrhunderts den Adelstitel Freiherr von Schwendendorff erwarben, galt die Bezeichnung Winckler von Schwendendorff. Offenbar stand die Familie mit dem „Baron“ im Namen ein Grad gesellschaftlich höher als mit einem einfachen Rittertitel. Anhand der Aktenlage können wir erkennen, dass erst ab dem 18. Jahrhundert regelmäßig Buch geführt wurde. Dementsprechend dünn ist die Aktenlage für das 15. und 16. Jahrhundert. Wir wissen aber, dass die Familie von Crostewitz durch den Dreißigjährigen Krieg in die Pleite geritten war und die Güter an die Familie der Wincklers verkaufte.
Verwaltungstechnisch war das Rittergut Dölitz reich gegliedert. Neben der dazugehörigen Wassermühle und anderen Wirtschaftsgebäuden in Dölitz verwalteten die Wincklers in Meusdorf ein Vorwerk samt Schäferei, im 18. Jahrhundert kam dort zudem noch eine Ziegelei hinzu. Im 18. Jahrhundert wurde auch die zum Rittergut gehörige Wassermühle neu gebaut. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts unterstanden auch die Rittergüter in Stünz und in Dölitz einer einzigen Verwaltungseinheit. Zum Rittergut in Stünz gehörte eine Windmühle. Weil Stünz von Dölitz aus verwaltet wurde, gehen Forscher davon aus, dass aus diesem Grund die dortigen Rittergutsgebäude vernachlässigt und abgerissen wurden. Jedoch besaß Stünz eine eigene Patrimonialgerichtsbarkeit. Sie ging mit der Übertragung auf die Dölitzer Wincklers auch auf Dölitz über. 1856 wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit beider Güter auf die Stadt Leipzig übertragen. Die Wincklers erhielten durch Erbgänge noch die Stadt Groitzsch im 18. Jahrhundert, sowie die Rittergüter Sellerhausen und Schönau. Bis 1927 blieb alles im Besitz der Familie Winckler. Gerda Maria Anne Helena von Winckler war die letzte Besitzerin bevor 1927 die Stadt Leipzig eingetragene Besitzerin des Gutes samt den dazugehörigen Vorwerken in Meusdorf und Stünz wurde. Gerda Winckler war die letzte Erbin des Gutes. Die eingeheiratete Ehefrau von dem letzten legitimen Erben wurde noch vor dem Tod von dessen Vater Witwe. Kinder waren also Fehlanzeige. Mit dem Ableben ihres Schwiegervaters 1918 erbte sie alles. Doch was soll eine Frau allein auf diesem Hof? Neun Jahre hielt sie es dort aus und veräußerte das Rittergut für 1,25 Millionen Mark an die Stadt Leipzig.

Schloss, Hofseite, Foto: Richard Herold, 1940. Copyright: SLUB Dresden, Deutsche Fotothek.

Was vom Schloss übrigblieb

Nur anhand von Fotos können wir uns am Anblick des einstigen Wasserschlosses ergötzen. Wahrscheinlich geht das einstige Renaissanceschloss auf eine im 13. Jahrhundert errichtete Wasserburg zurück. Nach dem Verkauf des durch Krieg und Verarmung heruntergekommenen Rittergutes an die Rats- und Händlerfamilie der Wincklers Mitte des 17. Jahrhunderts erfuhr der Komplex einen erneuten Umbau in eine drei Etagen umfassende Vierflügelanlage mit Innenhof. Bis zu seiner Beschädigung im Zweiten Weltkrieg war das hohe Dach des Hauptflügels samt Dachreiter mit barocker Haube weithin sichtbar. Durch den Luftdruck und die Splitter einer im Februar 1944 niedergegangenen Sprengbombe wurden die Gebäude beschädigt. Bis zu diesem Zeitpunkt nutzte die neue Besitzerin, die Stadt Leipzig, das Gut samt Schloss als reformpädagogische Freiluftunterrichtsstätte und während des Krieges als Kindergarten. Wie groß die Beschädigungen tatsächlich waren, lässt sich derzeit nicht verifizieren. Offenbar gab es nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus Bemühungen das Schloss zu erhalten und die vielleicht überschaubaren Zerstörungen durch Wiederaufbauarbeiten rückgängig zu machen. Wahrscheinlich ist, dass aus politischen Gründen das Schloss in den 1950ern dem Abriss freigegeben wurde. Offenbar waren die „politischen Gründe“ ein vorgeschobener Grund, weil eine benachbarte Gärtnerei Baumaterial benötigte und das Schloss u.a. aus diesem Grund ein jähes Ende erfuhr.

Offenkundig wurde das Schloss nicht 1947 gesprengt und abgetragen. Dieses Foto eines unbekannten Fotografen stammt von 1953. Copyright: SLUB Dresden, Deutsche Fotothek.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden lediglich Torhaus und noch bestehende Wirtschaftsgebäude wie die Wassermühle weitestgehend erhalten. Erst nach der Wiedervereinigung 1990 kam Bewegung um eine Renovierung ins Spiel. Heute ist im Torhaus das Leipziger Zinnfigurenmuseum untergebracht. An der Fassade des Torhauses können wir durch stecken gebliebene Kanonenkugeln noch sehen, wie hart umkämpft das während der Völkerschlacht zu Leipzig 1813 als französische Truppenlager genutzte Rittergut war. Als in den 1950er und 1960er Jahren der agra-Park entstand erfuhr auch die Anlage des Rittergutes eine Veränderung. Das Schloss verschwand. Heute blicken wir auf eine reichhaltige Nutzung des einstigen Rittergutareals für Kurzausflüge, Gastronomie und Arboretum samt Lehrpfaden. Neben der kulturell genutzten und restaurierten Wassermühle, auf deren mit Fachwerkhäusern gesäumten Areal einen kleinen Weihnachtsmarkt in der Adventszeit beherbergt, finden hier v.a. im Rahmen des Wave Gotik Treffens regelmäßig Mittelaltermärkte mit elektrisch geladener Bühnenmusik statt. Auch während der jährlich stattfindenden Völkerschlachtsgedenkveranstaltungen wird das Gelände als Biwak und Aufmarschplatz genutzt. Das Areal des ehemalige Schlossgutes ist außerdem auch wegen des Goethesteigs und den historischen Verweisen auf einen Aufenthalt des Dichterfürsten Goethe um 1800 ein beliebtes Ausflugziel für Touristen und Familien. Leider steht zur Debatte, das Gebäude des ehemaligen Gutsverwalters abzureißen obwohl es sanierbar wäre und einer Umnutzung für an Kinder orientierte Kulturprojekte neue Räumlichkeiten geben könnte.

Beitragsbild im Titel: Schloss Dölitz, Foto: Johannes Mühler um 1930, Copyright: SLUB Deutsche Fotothek.

Kirchen erzählen Geschichte – Die zerstörte Erlöserkirche von Leipzig-Thonberg

Daniel Thalheim

Wenn wir uns in die Geschichte zurück ins Jahr 1867 bewegen und im Leipziger Vorort Thonberg stehen würden, befänden wir uns in einem Dorf. Genauer gesagt in einem nur aus wenigen Häusern bestehenden Vorwerk. Damals war Thonberg noch nicht eingemeindet. Wahrscheinlich hätten wir noch Spuren der Völkerschlacht vorgefunden, oder zumindest Geschichten aus erster Hand gehört. Würden wir zur heutigen Kreuzung Riebeck-/Stötteritzer Straße gehen, stünden wir ungefähr an der Stelle, wo bis 1943 die Erlöserkirche von Hugo Altendorff errichtet war. Genauer gesagt stand sie damals ungefähr auf dem Gelände wo seit ca. 1990 eine Mittelschule genutzt wird.

Vom Dorf zum Stadtteil

1867 war nicht viel los in Thonberg. Wir könnten zum neu eingerichteten Neuen Johannisfriedhof gehen, der sich am Hospitaltor unmittelbar anschloss und seit Anfang der Achtzigerjahre des 20. Jahrhundert zum Friedenspark umgewandelt wurde. Wir könnten im Johannistal den Alten Jüdischen Friedhof aufsuchen sowie die Alte Sternwarte. Und wir könnten die private Heilanstalt für Geisteskranke von Eduard Wilhelm Güntz erblicken. Vielleicht hätten wir noch die Überreste der alten Getreidemühle von Thonberg gesehen, die noch im 18. Jahrhundert im Betrieb war. In der heutigen Schulgasse steht noch eine alte Schule aus den 1850er Jahren. Doch die Industrialisierung brach sich auch hier in der Gegend von Reudnitz und Thonberg Bahn; erste Verdichtungsprozesse können wir anhand der in den Stadtplänen verzeichneten Zeilenbebauungen um 1870 erkennen. Auch Firmenansiedlungen häuften sich zusehends. Wie in anderen im lauschigen Grün gelegenen Vororten von Leipzig auch, zog auch im südöstlichen Teil der Leipziger Umgebung der Mief von rauchenden Schloten und Eisenbahnen ein. Noch hätten wir den Eilenburger Bahnhof nicht sehen können, der entstand erst nach 1870 im neo-klassizistischen Stil. Doch Leipzig wuchs. Die Einwohnerzahl nahm schnell zu. Die Entwicklung sollte weiter anhalten. Auch nach der Eingemeindung der Stadtteile Reudnitz und Thonberg in das heutige Stadtgebiet von Leipzig Ende des 19. Jahrhunderts sollte sich immer wieder das Gesicht dieses Viertels verändern; sei es durch Kriegszerstörung oder durch die Stadtplanung in der DDR. Noch heute ändert sich das Gepräge dieses Gebiets zusehends. Am ehemaligen Hospitaltor am Eingang zum Johannistal entstehen aus den Rümpfen des ehemaligen Technischen Rathauses neue Wohnungen.

Der Grundriss der Thonberger Kirche von Hugo Altendorff, 1867, aus: Christliches Kunstblatt, 13/1871.

1867-1945 – Die Thonberger Kirche von Hugo Altendorff


Weil 1865 sich die Kirchengemeinden von Thonberg und das entlang der heutigen Prager Straße entstehende Neu-Reudnitz zu einer Parochie zusammenschlossen, stand dem Bau einer neuen Kirche (Beitragsbild oben zeigt einen Stich nach den Entwürfen von H. Altendorff) nichts im Weg. Knapp 27.000 Taler kostete das Bauwerk. Viel Geld für die kleinen Gemeinden. Und doch war das Bauwerk sehr günstig kalkuliert. Die Thonberger Kirche gilt als Altendorffs erstes Bauwerk, das er nach seinem Studium u.a. an der Sächsischen Königlichen Baugewerbeschule in Leipzig plante. Allein schon wegen der Bevölkerungszunahme in den Vororten und den unter Druck geratenen Wohnungsbau ließ den Bau einer Kirche im werdenden Stadtteil Thonberg für notwendig erachten.

Blick zum Altar und Apsis, Aufriss v. H. Altendorff 1867, aus: Christliches Kunstblatt, 13/1871.

Die Gegend war arm. Handwerker und Arbeiter bildeten die größte Bevölkerungsgruppe in Thonberg-Reudnitz. Daher wurde ein Kommitee eingerichtet, aus mehreren Gemeinden Geld für die Errichtung der Thonberger Kirche zu sammeln. Aufgrund der Kostenfrage entschied sich die Gemeinde für ein einfaches Gotteshaus, bzw. folgte dem Vorschlag des Architekten möglichst schnörkellos vorzugehen. Solide sollte das Bauwerk sein und doch ästhetischen Ansprüchen genügen. Eintausend Sitzplätze sollten vorgesehen werden.
Im Grundriss entstand so eine dreischiffige Hallenkirche, deren rundbogige Kreuzgewölbe von sechs schlanken achteckigen Pfeilern getragen wurden. Das Mittelschiff war höher und breiter als die beiden Seitenschiffe. Der Altarraum wurde massiv überwölbt und folgte in der Höhe der des Mittelschiffs. Auf den Seitenschiffen ruhten die auf Eisenträgern errichteten hölzernen Emporen. Über dem Haupteingang mit Vorhalle erhob sich die Orgelempore. Im Osten befand sich eine Apsis. Den Altarraum flankierten zwei private Kapellen sowie ein Taufbereich. An der Westfront am Haupteingang erhob sich ein Kirchturm, wo auch das Geläut die Gläubigen zu den Gottesdiensten rief.

Das Äußere nach den Plänen v. H. Altendorff 1867, aus: Christliches Kunstblatt 13/1871.


Altendorff folgte in der äußeren Gestaltung einem spätromanischen Stil, was sich an horizontalen Gesimsen und Rundbogenfriesen niederschlug. Neben weißem Kalkputz an den Fassaden war das Design bzw. die Farbigkeit der Kirche von weißem Sandstein geprägt, wobei der Sockelbereich aus einer Bruchsteinmauerung aus Granit bestand. Einen Ziegelrohbau bzw. eine Sandsteinverblendung zu planen, wäre aus Sicht des Architekten zu teuer gewesen. Das Dach erhielt eine englische Schablonenverziegelung aus roten und blauen Dachziegeln.
Auch die Inneneinrichtung folgte dem Prinzip weniger ist mehr. Die hölzernen Einbauten blieben in ihrer Natürlichkeit, lediglich die Bestuhlung wurde dunkelbraun angestrichen. Über die Farbigkeit der Wandflächen gibt uns der Architekt keine Auskunft. Nur von einer edlen Farbharmonie und sinnigem Dekor ist die Rede. Blicken wir in die Aufrisszeichnungen der Kirche, so ist zumindest das Gewölbe des Altarraums mit einem Sternen-, bzw. Kreuzmuster versehen worden. Über den Türstürzen sah der Architekt Bibelsprüche vor. Der Chorbogen erhielt die Worte: „Eine feste Burg ist unser Gott“.


Die Fenster an beiden Langseiten erhielten ein schmiedeeisernes Sprossenwerk und eine in Blei eingefasste Buntverglasung aus Rot, Gelb, Grün und Blau. Die Chorfenster bemalten Handwerker mit christlichen Ornamenten und Symbolen. Die Innenausstattung aus Altarstein, Kruzifix, der Lehrpult, Leuchter und Taufstein sind Geschenke von Gemeindemitgliedern bzw. ihrer Freunde gewesen. Die Kanzel gestaltete Altendorff selbst.
Der Baubeginn der Kirche erfolgte noch im November 1867 mit der Errichtung der Grundmauern. Im Frühjahr 1868 setzten die Handwerker die Arbeiten fort. Im April desselben Jahres erfolgte die Grundsteinlegung. Zum 1. August 1868 war der Turm – im übrigen durch eine wohltätige Sende in Höhe von 5500 Talern – fertig gestellt, am 12. September auch das Dach. Bis zum 1. Juni 1869 erfolgten Arbeiten an der Innenausstattung, so dass die Kirche an die Gemeinde am 25. Juli 1869 übergegeben und das Gotteshaus eingeweiht werden konnte. Nicht nur die Turmspende war ein glücklicher Zufall, der zur Realisierung des Bauwerks führte. Auch 40 Tonnen Zement einer Zementfabrik in Stettin gingen als unentgeltliche Lieferung im Bau auf. Die gemalten Chorfenster, die Glocken und die Orgel waren ebenfalls Geschenke von Freunden der Thonberger Gemeinde.

73 Jahre stand sie am heutigen Kreuzungsbereich Riebeck-/ Ecke Stöteritzer Straße. Ein durchschnittliches Menschenleben lang. In der Bombennacht vom 4. Dezember 1943 wurde die Thonberger Kirche, die nach ihrem Umbau in den 1880er Jahren als „Erlöserkirche“ bekannt war nahezu vollständig zerstört. In den Folgejahren erfuhr die Kirche ihren Abriss. Eine Rekonstruktion war aufgrund der starken Schäden nicht möglich.

Kirchen erzählen Geschichte – Die Leipziger Gethsemanekirche in Lößnig

Daniel Thalheim

Am südlichen Rand von Leipzig erhebt die Gethsemanekirche ihr Haupt. Man kann sie beinahe übersehen, wenn man über die breite Brücke der Bornaischen Straße in Richtung Markkleeberg düst. Sie steht auf der stadtauswärtigen, also westlichen Seite, in der verlängerten Raschwitzer Straße, die die Bornaische Straße am heutigen REWE-Markt kreuzt. Wer sich vom Rundling zu Fuß dahin begibt, sieht sie sofort.

Welche Geschichte erzählt die Gethsemanekirche?

Was wir sehen ist ein Bauwerk, das am 28. Oktober 1877 nach einjähriger Bauzeit eingeweiht wurde. Entworfen hatte den Kirchenbau der Architekt Hugo Altendorff (1843-1933). Damals war Lößnig noch eine kleine und arme Gemeinde südlich von Leipzig. 1813 spielten sich hier die Hauptkämpfe der Völkerschlacht bei Leipzig ab. Bis zum Herbst 1876 stand an der Stelle des heutigen Gotteshauses ein kleines Kirchlein, das wohl noch aus dem Mittelalter stammte. Über die Jahrhunderte und durch die Gefechte der Völkerschlacht war sie ziemlich baufällig geworden. Aus den Quellen geht hervor, dass die Gemeinde sich zwischen einer kostspieligen Reparatur und einem Kirchenneubau entscheiden musste. Weil die Gelder knapp waren, entschied sich der Gemeindevorstand von Lößnig für einen kostengünstigen Kirchenneubau: schlicht und klein. Für das Unterfangen benötigte der Vorstand einen Architekt. Die Wahl fiel auf den in Sachsen damals wohl umtriebigsten Baumeister – Hugo Altendorff.

Im Oktober 1876 wurde das alte Kirchengebäude abgerissen. Ein Jahr lang entstand auf ihrem Grundriss die neue Gethsemanekirche. Im Oktober 1877 wurde sie feierlich geweiht. Weil sie so klein und schlicht ausgeführt wurde, ähnelt sie eher einer größeren Kapelle als einer Kirche. Daher ist wahrscheinlich auch der Giebelturm mit seinem Haupteingang errichtet worden anstatt eines echten Kirchturms. Möglich ist auch, dass Altendorff dem romanischen Baustil des Vorgängerbaus folgte um eine Reminiszenz an den Wehrkirchenbautypus aus dem Mittelalter zu schaffen. Im Neubau selbst wurden der Taufstein von 1582 und die drei alten Glocken von 1442 und 1526 mit verbaut. Die dritte Glocke konnte erst 1986 mit zu den anderen gehängt werden.

Grundriss der Gethsemanekirche in Leipzig-Gohlis von Hugo Altendorff 1877. Quelle: Christliches Kunstblatt, 1878.

Das einschiffige Bauwerk besitzt eine Freitreppe, die zum Haupteingang führt. Wer durch das Portal eintritt gelangt in eine geräumige Vorhalle. Von dort kann man in das Kirchenschiff eintreten. Zwei Treppen führen von der Vorhalle in die darüber befindliche Empore. Gegenüber der Empore befindet sich der Altarraum mit einer Apsis sowie kleine Nebenräume wie die Sakristei bzw. ein kleiner herrschaftlicher Gebetraum. Die Empore, die von der Vorhalle an den beiden Seiten des Kirchenschiffs entlang laufen wurden 1877 in Holz errichtet. Die Emporen ruhen auf eisernen Stützen. Durch die Emporen entsteht der Eindruck einer dreischiffigen Kirche, der Kirchenraum wirkt so größer, weil auch so eine vertikale Flucht geschaffen wird. Kirchenschiff und Altarraum wurden mit hölzernen Decken eingezogen. Die Apsis selbst erhielt ein massives steinernes Gewölbe. Weil die Kirche nach Westen ausgerichtet ist, erhält sie durch die hohen, der Gotik nachempfundenen, Fensterreihen ein angenehmes Licht. Im Schiff selbst haben 150 Menschen Platz, in der Empore 100. In Anlehnung an die Romanik bzw. auch Frühgotik ist auch das Innere gestaltet worden.

Mit seinen Baukosten von 35.000 Reichsmark ist die Gethsemanekirche die billigste Kirche, die seinerzeit in Sachsen gebaut wurde. Das schreibt der Architekt im übrigen selbst. Doch die kostengünstige Variante sollte aus seiner Sicht keine Negativwertung sein. Eher solle die Gethsemanekirche als Vorbild für andere sächsische Gemeinden dienen, wie kostengünstig eine ästhetisch wertvolle Kirche gebaut werden kann. Ob das heute noch der Fall sein könnte, ist angesichts der behördlichen Regelwut und der hohen Material- und Arbeitskosten eher anzuzweifeln.

Wer war Hugo Altendorff?

Zunächst einmal war Altendorff ein Leipziger. Als Sohn der Schwester des Leipziger Buchhändlers Anton Philipp Reclam, Cäcilie, und des Stralsunder Buchhändlers Julius Friedrich Altendorff besaß er die besten Voraussetzungen für eine gutbürgerliche Bildung und ein Studium, das seinen Neigungen entsprach.

Hugo Altendorff baute in Lößnig die billigste Kirche Sachsens.

Er erlernte nach seinem Besuch der Bürgerschule in Leipzig zunächst den Beruf des Zimmermanns, um bis 1867 an der Königlich Sächsischen Bauschule seinen Abschluss in Architektur zu absolvieren. Er studierte auch an anderen Bauschulen in Berlin, Nürnberg und München. Im selben Jahr, 1867, wurde nach seinen Plänen die Erlöserkirche in Leipzig-Thonberg errichtet. Sie wurde 1945 durch Kriegseinwirkungen zerstört. Mit diesem neugotischen Typus einer Kirche gilt Altendorff als einer der Begründer des neugotischen Stils in Sachsen. Im selben Stil schuf er die Friedenskirche in Leipzig-Gohlis 1873, er baute die barocke Kirche in Zöbigk um (1942 kriegszerstört) und plante die 1873 errichtete Reformierte Kirche in Leipzig. Insgesamt 20 Kirchenneubauten gehen bis 1888 auf sein Konto. 23 Kirchen wurden durch ihn restauriert, 49 weitere von ihm umgebaut. Als seine erste Kirche in Thonberg 1888 durch einen anderen Architekt erneut umgebaut wurde, gab er den Beruf als Architekt auf und wandte sich dem Design von Kleingegenständen zu. Seine Stilauffassung, Kirchengebäude grundsätzlich im gotischen Stil umzugestalten und neu zu bauen, schlug sich in seiner 1872 erschienenen Schrift „Über die kirchliche Baukunst des 19. Jahrhunderts“ nieder. Seine Stilauffassung fand aber seit den 1880er Jahren keinen Anklang mehr. Außerdem wuchs die Kritik an sein radikales Vorgehen, dass u.a. auch barocke Innenausstattungen seinen Umbauten und Restaurierungen zum Opfer fielen und so auch wertvolle Kunstgegenstände unwiederbringlich verloren gingen.

Die Zündkerzenwerkstatt stirbt – Freiräume werden in Leipzig seltener

Daniel Thalheim

Im März dieses Jahres wogte eine kleine Welle durch das Zuckerberg‘sche Internetimperium. Impuls war ein Vorgang, der in Leipzig seit Jahren stattfindet; die Verdrängung von freien Kulturräumen im Leipziger Stadtgebiet. Der Leipziger Osten sorgt wieder für Gesprächsstoff. Nachdem vor einigen Jahren für die Subkulturkneipe „Four Rooms“ das Aus kam, steht nun die Zündkerzenwerkstatt vorm Auszug aus ihrem Domizil in der Dresdner Straße in der Höhe der ehemaligen Grünen Schänke. Grund für die Schließung dieses kulturellen Ortes ist der Plan des neuen Eigentümers, an diesem beschaulichen Ort Wohnungen zu bauen. Seit 2012 verschreibt sich eine Gruppe von kreativen Köpfen der Kunst, Kultur und dem Handwerk. In zwei Hinterhäusern und Gartengrundstücken fanden bis zur Pandemie regelmäßig Veranstaltungen wie Flohmärkte, Lesungen, Konzerte und andere Zusammenkünfte statt. Ein Tischler hatte hier seine Werkstatt, ebenso Maler, Grafiker, ein Fahrradbauer und ein Holzbildhauer besaßen an dieser Stelle ihre kreativen Entfaltungsmöglichkeiten.
Für den Herbst steht der Abriss der hinteren Gebäude und Gärten an, die die derzeitigen Mieter von einer Vormieterin übernommen hatten. Dieser Ort besitzt, neben einer Schlibbe zwischen Kippenberger und Dresdner Straße, einen großen Baumbestand und ist eng mit der Geschichte des Stadtteils Reudnitz verbunden. Der Kahlschlag ist eines grünen Platzes vorprogrammiert.
„Dieses Kleinod verschwindet!“, steht seit März auf der Webseite der Ateliergemeinschaft, „sang- und klanglos, leise….“
Tatsächlich können Stadtverwaltung bzw. Politik nicht viel unternehmen, außer den Mietern der Zündkerzenwerkstatt bei der Suche von neuen Objekten zu helfen. In die Privatinteressen des Neubesitzers kann bzw. will man nicht hineinreden. Die Betreiber fühlen sich angesichts der jäh einsetzenden Entwicklung wütend, müde und machtlos. Denn jedwedes alternative Angebot ist derzeit für die Kreativen entweder nicht bezahlbar oder liegt in einem Gewerbegebiet außerhalb von regelmäßigem Publikumsverkehr.
Tobias Peter, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Leipziger Stadtrat und Mitglied im Stadtentwicklungsausschuss, ist mit dem Problem vertraut. Seit Jahren setzt eine Verdrängung solcher kulturellen Orte in den Stadtteilen ein. Grund: wirtschaftliches Interesse von Privateigentümern. Dazu äußert er, dass er und andere Politiker in Fällen wie der Zündkerzenwerkstatt nicht mehr eingreifen können, ebenso der Stadtverwaltung die Hände gebunden sind. „Man hätte mit den jetzigen Mietern schon früh ins Gespräch kommen müssen, um zu prüfen, ob über einen Bebauungsplan die kulturelle Nutzung im Gebiet festgeschrieben werden kann“, gibt er gegenüber ARTEFAKTE zu Protokoll. „Es fehlt ein Frühwarnsystem, dass ein rechtzeitiges Eingreifen in diesen Fällen ermöglicht.“
Bevölkerungswachstum und Immobilienspekulation führt zu den Verdrängungen von kulturellen Kleinprojekten in den Quartieren, die erst ein Stadtviertel urban machen. So werden ganze Bevölkerungsgruppen, meist wirtschaftlich benachteiligte Menschen, nicht nur als Wohnende, sondern auch als Arbeitende an die Ränder gedrängt. Verloren geht dabei eine Mischung von Wohnen, Freizeit und Gewerbe, die eigentlich erklärtes Ziel der Leipzig-Charta ist.
Dabei war vor 150 Jahren der Stadtraum – nicht nur in Leipzig – anders gedacht worden. Laden- und Geschäftsstraßen gelten noch in Wien als schick. Die Verschränkung von Arbeitsraum und Wohnkultur gehört dort ebenso noch zum guten Ton; Handwerksbetriebe, Künstler, Gewerbetreibende bildeten seit dem 19. Jahrhundert ein soziales Gefüge, in dem auf kurzen Wegen die Arbeit sozusagen auf der Straße zu finden war. Ein Umstand, den die Leipziger noch bis 1990 kannten, in Wien in den Bezirken 6 und 7 noch existiert. Nicht umsonst war bis zur Pandemie Wien auf Platz Eins der lebenswertesten Städte in Europa.
In Leipzig setzte eine andere Entwicklung ein. Die Ausrichtung des gesellschaftlichen Miteinanders auf das Auto ließ die alten Strukturen eingehen. Einkaufsmeilen konzentrieren sich auf Supermärkte. Die Arbeit ist in Logistikzentren am Rand der Stadt geparkt.
Sandra Wehlisch, eine der Mieter der Zündkerzenwerkstatt, ist diese Entwicklung durchaus bewusst. „Man gewinnt den Eindruck …dass Handwerk- und Künstler besser in Gewerbegebieten aufgehoben sind“, sagt sie und meint dass diese Entwicklung Leipzig nicht unbedingt von einer guten Seite dastehen lässt. Eine letzte Hoffnung haben die Kulturschaffenden in der Zündkerzenwerkstatt doch noch. Bis Ende Oktober dürfen sie noch bleiben. Aber diese Frist scheint am Galgen zu hängen, den Kreativen Zeit zu geben, sich was neues zu suchen. Ein Mieter besitzt jedoch noch einen Mietvertrag, der bis Ende Dezember 2021 läuft. Bis dahin dürfte theoretisch nichts abgerissen werden. „Ansonsten kann auch die Stadt uns nicht helfen“, äußert Wehlisch hilfesuchend, „sie vermittelt unsere Anschreiben und Schreiben der Stadt an diverse Hauseigentümer. Die reagieren entweder gar nicht oder sagen ab, … aber wir hatten auch schon Besichtigungstermine.“
Die Mieter der Zündkerzenwerkstatt rühren die Werbetrommel für einige Veranstaltungen im Juli. So wird die „Zündkerze“ am 4. Juli im Rahmen der Reudnitzer Hinterhofflohmärkte geöffnet sein. Während des gesamten Juli dient der Ort an mehreren Terminen als Station bei einer Audiowalk-Performance in Zusammenarbeit mit dem Mühlstraße 14 e.V. Auf diese Weise können Menschen die Werkstätten und Gärten besuchen, zuschauen wie eine künstlerische Gruppe vorm Atelierhaus steht, über den Neubau informiert und den kommenden Abriss im Zuge der Stadterneuerung feiert, während eine andere Gruppe in den Ateliers über die Arbeit der Menschen und den Ort als Kunst- und Kulturraum Auskunft gibt. Für die jetzigen Betreiber ein Abschied auf Raten.