Neue Grundschule im Leipziger Osten – Eilenburger Bahnhof wandelt erneut sein Antlitz

Daniel Thalheim

Leipzig baut. Wer 2023 von der Prager Straße zur Dresdner Straße fuhr, wurde einer neuen Baustelle gewahr. Auf dem Gelände des ehemaligen Eilenburger Bahnhofs, heute Lene-Voigt-Park genannt, wurde ein ehemaliges Bahnhofsgebäude entkernt bis nur die Außenhaut des einstigen spätklassizistischen Gebäudes stehen blieben. Es wurde gewühlt, gebaggert, gesichert und nun wieder aufgefüllt. Leipziger sollten genauer hinschauen, was hier passiert. Hier entsteht was neues. Die Wilhelm-Busch-Grundschule soll hier ein Zuhause finden.
Dieses Gelände ist, wie andere Gegenden, Regionen und Landschaften, ein Prägestempel der Industrialisierung und der verschiedenen politischen Systeme in Deutschland. Im Kaiserreich als Personenbahnhof für den Nahverkehr genutzt, später unter den Nazis ein Umschlagplatz für Zwangsarbeiter_Innen und ein Polizei- sowie Ausländergefängnis und in der DDR eine Barackenbrache mit Kindergarten, IT-Firma und wildem Bewuchs, ist an dieser Schnittstelle zwischen den Stadtteilen Reudnitz und Thonberg ein Naherholungspark entstanden.
Seit 1997 folgt die letzte Etappe einer bis 2026 anhaltenden Revitalisierungsserie, die einem Marathon gleicht.

Leipzig, Eilenburger Bahnhof, Entwurf, Aufriss der Hauptfassade mit Bezeichnungen, Richard Steche, um 1875. Feder, Pinsel in Wasserfarbe/Papier. 34,2 x 100,7 cm. Bez.: „HAUPTANSICHT (abfahrt) EMPFANGSGEBAEUDE LEIPZIG“ und unten rechts „Eilenburger Bahnhof“ (Bleistift, sekundär). Quelle: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

Was der Eilenburger Bahnhof einst war

Als in Leipzig die Industrie zu brummen anfing, vernetzte die Stadt sich mit den eisernen Adern der Eisenbahn. Der Eilenburger Bahnhof wurde 1874 als einer von fünf Bahnhöfen in der Messestadt errichtet. Von hier aus rollte der Personenverkehr ins Leipziger Umland und vor allem, wem wundert‘s, über Taucha nach Eilenburg. Zwei Jahre dauerte damals der Bau des Bahnhofgebäudes mit dazugehörigen Lokschuppen, Güterbahnhof und Gleisanlagen. Der Architekt, Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Richard Steche (1837-1893) entwarf das lang gestreckte Bahnhofsgebäude im Sinne des Spätklassizismus. Der Backsteinbau maß 150 Meter in der Länge und in der Breite 15 Meter. Der Nah- und Güterverkehr auf diesem Bahnhof hielt bis in den Zweiten Weltkrieg an bis er von Fliegerbomben 1942 gänzlich zerstört wurde. Das Bahnhofsgebäude diente von 1939 an bis 1942 zu diesem Zeitpunkt als Polizeigefängnis, Städtische Arbeitsanstalt und Durchgangslager für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Bis heute fehlt an der Stelle des heutigen Lene-Voigt-Parks eine Erinnerungsstätte für die schreckliche Zeit der Nazi-Herrschaft. Das Thema Zwangsarbeit reichte tief in die städtische Gesellschaft Leipzigs hinein und wurde v.a. in der DDR-Zeit verschwiegen. Von Bahnhöfen wie diesen fanden unter den Augen der Leipziger Bevölkerung neben den Transporten von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern auch Transporte in die Konzentrations- und Vernichtungslager statt.

Eilenburger Bahnhof, Ansicht von 1905. Quelle: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig.

Was der Lene-Voigt-Park sein soll

In der DDR zuckelten offiziell bis 1973 von kleinen Diesel- und Dampflokomotiven gezogene Güterwaggons in den noch vorhandenen Teil des Bahnhofs an der Riebeckbrücke. Teilweise wurden noch bis in die frühen 1980er Jahre kleine Transporte gesichtet. Ab 1974 wurden große Teile für den Bau von Baracken freigegeben, in denen u.a. eine Kindertagesstätte und ein IT-Zentrum bis 1990 ihr Zuhause fanden. Ab den 1990ern verwilderte die Industriebrache bis 1997 in der Leipziger Ratsversammlung die Revitalisierung des zehn Hektar großen Abschnitts zum Lene-Voigt-Park beschlossen und Stück um Stück in die 2000er Jahre umgesetzt wurde und bis 2026 mit dem Bau der Wilhelm Busch Grundschule fortgesetzt wird. Heute dient der Freizeitpark als Ort für sportliche aktive Menschen, bzw. für Menschen, die an diesem Fleck sich erholen möchten.

Wo heute noch die Außenmauern eines ehemaligen und denkmalgeschützten Güterabfertigungsgebäudes aus gelbem Backstein stehen, wird eine fünfzügige Grundschule entstehen. Seit Sommer 2023 finden hier umfangreiche Bauarbeiten statt. Die Wilhelm-Busch-Grundschule soll für 616 Schülerinnen und Schüler Entfaltungsmöglichkeiten bieten, wozu u.a. eine wettkampftaugliche Sechsfeldsporthalle mit 199 Zuschauerplätzen und Sport- und Freiflächen dienen sollen. Zum Jahresbeginn 2026 können die die Grundschüler sowohl Schule als auch Sporthalle eifrig nutzen. Barrierefreiheit wird integraler Bestandteils des Neubaus sein. Die Außenmauern des einstigen denkmalgeschützte Backsteingebäude Güterabfertigungsgebäudes mit Küche, Speisesaal und Mehrzweckraum wird künftig wohl auch für außerschulische Zwecke genutzt werden. Die Dachflächen aller Neubauten werden begrünt. Auch eine neue Kindertagesstätte soll hier entstehen.
Rund 57 Millionen Euro soll der Neubau kosten, von denen etwa 14,5 Millionen Euro aus dem Förderprogramm „Schulinfrastruktur“ kommen. Mit den planenden und ausführenden GMP Architektenbüro hat die Stadt Leipzig sich erfahrene Leute ins Boot geholt, die mit ihren Planungsentwürfen und ausgeführten Bauwerken weltweit klassische Moderne im Gefüge städtebaulicher historischer Kontexte stehen sehen, wie u.a. die Stadthalle in Magdeburg, das Gebäude des China Klubs in Berlin, das Kulturzentrum in Alsdorf, das Springer Quartier in Hamburg, das Neue Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen, das Parkhaus in der Hamburger Speicherstadt und das Steigenberger Hotel auf der Fleetinsel in Hamburg.

Wilhelm Busch Grundschule auf der Seite der Stadt Leipzig

GMP Architekten mit dem Schulneubau

Zum Thema Zwangsarbeit auf dem Eilenburger Bahnhof

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Fallen out of memories – Yim Young Ju shows urban landscapes with new exhibition at Galerie Potemka

Lu Potemka & Daniel Thalheim

In the exhibition „Memoryscape“ Yim Young Ju shows landscapes – the urban as well as the rural space. The starting point of the series is a „moon settlement“ in Incheon. Moon settlements are similar in appearance to German allotments, only without any vegetation to speak of. Basically, they are ghettos. The connotation with a rapid crime rate in the moon settlements, however, is not comparable with that of Germany: „I landed in Gwangju, in search of an artist supply store by chance in a moon settlement. There were hardly any people to be seen. I approached the first person I met and asked for an artist supply/frame maker (the man spoke no English, I spoke no Korean), I described what I was looking for with my hands and feet and, in doubt whether he had understood me correctly, was led to another place in the moon settlement. There I was introduced to another man, also with no knowledge of English, who again took me to another spot and so it went two more times. Neither of them could speak English and with each change of person and the way that went with it, I found it harder to find my way around. The matter began to get queasy. Finally I landed at the other edge of the moon settlement with a carpenter who could help me. These helpful men had understood what I was looking for and gave me their time, knowing that I would never find the carpenter alone. They were very courteous and polite people. I observed on this „excursion“ that many people in the Moon Settlement were doing crafts and repairs, and artists had their studios in and around the Moon Settlements, and unlike the (richer) neighborhood where my hotel was located, many elderly people also lived in the Moon Settlement.“

The Trauma of Satellite Cities

But back to Yim Young Ju. In the seventies, when he was a child, there were many workers living there, because South Korea was still a poor country. His parents both went to work in the city during the day. Yim Young Ju was left to his own devices and grew up with other children in the yards of the Moon Settlement. The places shown in the paintings are therefore personal, experienced and remembered places, „internalized places of human experience,“ as he himself describes it, where past and present coexist. In these residential areas exist absolute systems with their own rules, which he captures visually. He saw parallels to this in Lößnig, a Leipzig neighborhood that was his first stop in life in Leipzig. In the prefabricated buildings he found there, he draws a line to his life experiences in the Mondsiedlung, and this also made the urban landscape of Lößnig, as a German fringe society, attractive to him as pictorial content. Here, completely different levels of interpretation play their roles. In the forward-looking style of real existing socialism, housing estates in cities such as Leipzig, Berlin, Magdeburg, Karl-Marx-Stadt and Rostock were regarded as the highest urban planning and socio-social goal to be achieved in order to offer working people prosperity. If we already know these urban developments from the social-reform ideas of the late 18th and early 19th century. Within this historical framework, we know that these settlements provide and allow to develop their very own structures, up to the dystopia of exclusion, physical and psychological violence and escalation – the best example is given by the incidents in Rostock-Lichtenhagen, where Vietnamese guest workers were attacked and injured in their living quarters in a prefabricated housing estate in Rostock-Lichtenhagen by a mob radicalized by right-wing extremist ideas. The musicians of the British pop band Depeche Mode also describe their origins in a poverty-stricken satellite town near London as dreariness, as an experience of violence and filled with a coldness of feeling.
Yim Young Ju’s depictions of the landscape, however, are not about judgment. Marginalized societies exist in different milieus and institutions. Michel Foucault has assigned them the concept of „heterotropy,“ and the visualization of this is what the entire „Memoryscape“ cycle is about. Yim Young Ju selects according to the premise of whether a motif was part of his life or is part of his experience. He writes: „Heterotropy, to me, is different things that coexist in one place and can be interpreted ambiguously. We can’t (grasp) all these levels at the same time – but that’s what makes us human.“

Who is the artist?

Young Ju Yim was born in 1972 in Incheon, South Korea. He has lived and worked in Leipzig and Berlin since the early 2000s. He already studied B.F.A. Fine Art Education at IN HA University in Incheon from 1993 to 1998. From 2004 to 2009 he studied painting with Prof. Sighard Gille and Prof. Annette Schröter at the Academy of Visual Arts in Leipzig. Since then he has been working as an independent artist.
Yim Young Ju’s paintings reflect his personal worlds of experience in a very poetic way. The contexts he draws on often relate to social, philosophical and even religious issues. He takes on the role of an observer, i.e. instead of brutely shouting out the primal reasons of life, he remains genteel in his artistic presentation, without omitting anything, without concealing what he has experienced. His two-world experience plays a supporting role both in his pictorial language and in his choice of subjects.

Yim Young Ju
Memoryscape

Malerei 

Vernissage 6.10.2022

Ausstellung 7.10. – 17.12.2022

Galerie Potemka

Aurelienstr. 41

04177 Leipzig

Leuschnerplatzbebauung bis 2030 – Der große Wurf ist es trotzdem nicht

Udo Marchése

„Der Leuschner-Platz ist immer noch eine klaffende Wunde im Herzen der Stadt. Mit dem B-Plan stecken wir jetzt endlich den Rahmen ab, wie dieser Platz künftig gestaltet werden soll. Dieser Plan bringt die unterschiedlichen Interessen – Wohnen, Wissenschaft, Kultur, Handel – zusammen und zeigt so die Perspektive für einen lebendigen Platz inmitten der Stadt“, teilt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) das Ergebnis einer Dienstberatung mit Thomas Dienberg (Baudezernent, B90/Die Grünen) und Skadi Jennicke (Kulturdezernentin, Linke) mit. Man kann förmlich die Erleichterung spüren, dass endlich ein Fahrplan zur Bebauung des brach liegenden Leuschnerplatzes vorliegt. In diesem Jahr werden die letzten Weichen gestellt, um das Bauvorhaben ab 2022 zum Ziel zu führen; ein Quartier für Wohnen, Einkaufen und Kultur für die Leipziger zu schaffen, welches auch – dank des Naturkundemuseums im Bowlingtreff – auch ein touristischer Magnet werden kann. Der große architektonische Wurf ist das Projekt dennoch nicht.

Kaum brach das neue Jahr 2021 an, wogte in den Sozialen Medien eine kleine Empörungswelle. Die ersten Bäume und Büsche am Leuschnerplatz werden abgeholzt. Refugien, so heißt es, für Vögel und Insekten. Warum könne Bauen nicht naturschonend geschehen, wurde als Frage in den Raum gestellt, und warum könne man Natur nicht erhalten, schwang im Subtext der Kritik mit. Hintergrund ist der, dass sich die Leipziger an die Brachenlandschaft, die wild umher wucherte, gewöhnt hatten und auch als schön empfanden. Ihr Abriss ist natürlich auch ein harter Schnitt für das grüne Empfinden der Leipziger. Wie es von Leipzigs Baubürgermeister Thomas Dienberg laut der Leipziger Volkszeitung vom 1. März 2021 heißt, wird 2023 ein Wettbewerb zur naturnahen Gestaltung des Leuschnerplatzes ausgeschrieben. Vor dem Gebäude der heutigen Stadtbibliothek sollen wieder Grünanlagen entstehen, die laut Dienberg mehr Raum einnehmen als die Naturbrache heute. Mit diesem Ziel, einen kleine Park zu errichten, wird das Projekt auch ein wenig der Leipziger Historie gerecht – im 19. Jahrhundert war dieser Abschnitt zumindest ebenfalls ein Park nachdem dieser Bereich als Exerzierplatz für die Stadtgarde diente.

Den Wohnanteil erhöhten die Planer im Leipziger Rathaus. 300 Wohnungen sollen nun entstehen. Hierzu soll ein Wohnhochhaus errichtet werden. Weitere Wohnungen sind am Südostbereich an der Grünewaldstraße geplant. Die Wohnfläche erhöht sich auf dem gesamten Areal von bisher rund 16.000 auf etwa 22.300 Quadratmeter. Der neue Entwurf unterbindet laut Mitteilung aus der Verwaltungsspitze, dass künftig noch Wohnflächenanteile aus den Baufeldern verlagert werden dürfen. Insbesondere im südlichen Baufeld sei nun ein hoher entsprechender Anteil vorgesehen – neben dem bereits geplanten Neubau des Leibniz-Instituts für Länderkunde (IFL) wären hier allein 9.800 Quadratmeter für Wohnungen raumgreifend, was 80 Prozent der Fläche entspräche. Im mittleren Baufeld wird verzichtet, wesentliche Teile der Kernverwaltung der
Stadt unterzubringen, um zusätzliche Wohnungen zu schaffen. Mit den Änderungen ist es nun möglich, in diesem Bereich den „Global Hub“ der Universität Leipzig anzusiedeln. Auf 5.000 Quadratmeter wird das Forschungsinstitut stattfinden.

„Mit dem Gutachten nimmt die Markthalle nun eine erste Hürde: Demnach ist der Leuschner-Platz geeignet und das Konzept unter verschiedenen Rahmenbedingungen wirtschaftlich tragfähig. Auch die Bürgerinnen und Bürger stehen laut Vorab-Bericht der Studie dem Projekt sehr positiv gegenüber. Zudem können Verdrängungseffekte auf dem Wochenmarkt verhindert werden, weil sich Angebot und Nachfrage perspektivisch stark unterscheiden sollen und die Händler vom Innenstadtmarkt eher keine Verlagerung in die Halle erwägen. So halten die (…) Gutachter zwei Varianten für tragfähig: Jeweils die ombination aus Markthalle und – als wirtschaftlicher Anker und Anziehungspunkt für die Bürgerinnen und Bürger – einem Supermarkt. Die Anzahl der Marktstände variiert zwischen rund 18 und 30, gastronomische Angebote sollen das Sortiment vor Ort abrunden.“, heißt es zur Markthalle. Dieses Projekt ist laut einem unabhängigen Gutachten, das sowohl Händler und Leipziger befragte, nicht vom Tisch und wird in mehreren, einer kleinen und einer größeren, Varianten diskutiert. Optimal wäre eine kleine Variante um Raum für weitere Stakeholder zu schaffen, den Raum weiterhin nutzen zu können. Das Thema Supermarkt schwebt also noch mit. Im Markthallenkomplex wären wahlweise VHS oder Musikschule mit untergebracht, aber vielleicht auch die Zentrale „Global Hub“ der Universität Leipzig. Ob Musikschule oder Volkshochschule ins Quartier ziehen werden, wird noch als Gutachten abgewartet. Fest steht schon, dass das Leibniz-Institut für Länderkunde seinen Sitz von 2021 bis 2023 an der Windmühlenstraße bauen wird. 2022 beginnen auch die Planungen, das Naturkundemuseum mit seinen Sammlungen ins Bowlingtreffgebäude am Nordrand des Platzes einziehen zu lassen. Auch für die Leipziger Juristenfakultät und das Forum Recht bleibt noch Raum, um ab 2024 errichtet werden zu können. Vor 2030 werden nicht alle Messen gesungen sein. Noch im März müssen die Leipziger Stadtratsabgeordneten den geänderten Bebauungsplan absegnen. Der geänderte Bebauungsplan ist erst 2022 rechtskräftig. 2023 findet der Wettbewerb für die Freiflächengestaltung statt. Der Bowlingtreff mit dem Naturkundemuseum wird erst ab 2025 saniert bzw. sammlungsgerecht umgebaut. Bis 2030 werden alle anderen Teilprojekte umgesetzt. Erst in neun Jahren werden die Leipziger sehen, ob der auf sechs Hektar erbaute Komplex architektonisch wirklich der große Wurf geworden oder doch nur finanziellen Planspielchen und Sparzwängen unterworfen ist. Bislang herrscht in den Entwürfen und Planungen lediglich Pragmatismus.

Neue Werke von Ofra Ohana – Galerie Potemka mit Ausstellung am Start

Daniel Thalheim

Sie stammt aus Israel, lebt und arbeitet aber seit einiger Zeit in Leipzig. Ofra Ohana beendet dieser Tage ihr Meisterschülerstudium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst bei Anette Schröter. Ab dem 1. Oktober werden ihre expressionistisch anmutenden Arbeiten einen Monat lang in der Galerie Potemka gezeigt.

„Das Licht und die Farbigkeit ihrer Bilder, wie auch der Ausstellungstitel, referieren über Ofra Ohanas Herkunft aus wärmeren Gefilden. Die Farben sind sehr intensiv“, beschreibt Galeristin Lu Potemka die Ausrichtung Ofra Ohanas Malerei. Ihrer Meinung nach bringt die israelische Malerin die Sonne aus dem Süden mit, aus ihrer Heimat Israel. Die Künstlerin sagt zur ihrer Technik: „Ich trage Tempera und Ölfarbe in vielen Schichten auf. Es kann sein, dass sich die Farbigkeit während des Werkprozesses radikal verändert“.

Ofra Ohana hat nach ihrer Gasthörerschaft von 2017 bis 2018 ihr Meisterschülerstudium bei HGB-Kunstprofessorin Annette Schröter 2018 begonnen und beendet dieses dieser Tage. Womit sich die Malerin inhaltlich beschäftigt stellt ihre Galeristin als Beschäftigung mit den klassischen Modi aus der Kunstgeschichte dar. Darstellungen aus ihrem direkten Lebensumfeld lassen private Einblicke zu: Porträts, Stilleben und Interieurs „Es sind persönliche Motive, die farblich einer expressionistischen, subjektiven Interpretation folgen und oft vollständig vom Vorbild losgelöst sind. Es geht Ofra Ohana nicht um die bildhafte Wiedergabe philosophischer Theorien oder Konzepte, sondern um Malerei, um die schöpferische Auseinandersetzung mit den Urbildern, um Textur, Oberflächen und Farbverhältnisse.“

Im Prozess der Malerei erlaube die Küsntlerin sich ihr Bedürfnis aufzugeben, der Realität nahe zu sein und formale und farbige persönliche Interpretation zu übernehmen. „Schon früh haben die Gemälde ein eigenes Leben, das sich zu einer Farb- und Formkomposition entwickelt, die die Figur und die Perspektive ausdehnt, die sie komponiert und der Abstraktion nähert.“

Außerdem beschäftige sie sich mit der Beziehung zwischen Abstraktion und Figuration. „… (sie) ist ein gewisser Antrieb meiner Arbeit. In diesem neueren Werk werden die Kompositionen weiter vereinfacht und die Farbfelder werden größer, wodurch das Gespräch, das ich mit der Abstraktion habe, noch lauter wird. Es sind Bilder die zwar gegenständlich, aber nicht naturalistisch sind. Es existieren Bezüge zu Cézanne, nicht zuletzt auch in der Einfachheit der wiedergegebenen Gegenstände und einer gewissen Hingabe zu ihnen.“

Ofra Ohana

Aus dem Süden (Malerei)

Vernissage: Fr. 1.Oktober.2020, 16-21 Uhr

Ausstellung: 2. – 31.Oktober 2020

potemka.de

180 Jahre Fotografie – Deutsches Fotomuseum widmet sich dem Kinderporträt

Daniel Thalheim

Seit dem 26. September präsentiert das Deutsche Fotomuseum mit Sitz in Markkleeberg eine wegen der Covid-19-Pandemie gestoppte Sonderschau. Vor der Schließung war „180 Jahre Fotografie – Das Bildnis vom Kinde“ gerade mal drei Wochen lang zu sehen. Nun kann sie ohne Lock-Down bis zum 1. November 2020 besucht werden.

Das Genre Fotografie hat bereits ein stolzes Alter erreicht. Was hat man nicht alles abzulichten versucht; Alltagsszenen, Dachlandschaften, Natur, Porträts, Stilleben. In ihren Anfangstagen folgten die Fotografen den klassischen Künsten; Malerei, Grafik und Bildhauerei. Während die gestalterischen Mittel dieselben geblieben sind, eröffneten sich durch den Einsatz der neuen Technologie neue Horizonte. Fotografie kann soviel mehr technisch umsetzen als man es mit Malerei je bewerkstelligen könnte. Mit Fotografie können wir in die Tiefen des Weltalls schauen, die Zeit einfrieren und mit der Lupe in mikroskopisch kleine Welten schauen. Wie um die Fotografie in ihren Kinderschuhen zu verdeutlichen zeigt das Deutsche Fotomuseum in Markkleeberg aus seinen Sammlungen Fotografien von 1850 bis 1935. Das Kinderbildnis steht im Vordergrund der Schau. Natürlich schauen wir auf die unterschiedlichen technischen Umsetzungen, doch der Wandel der Bildauffassungen will die Ausstellung anhand des Kinderbildnisses verdeutlichen. So werden die mit dem Wandel einhergehenden gesellschaftlichen und ästhetischen Veränderungen sichtbar, die sich  im Verlauf von nur drei Generationen zwischen Biedermeier und Moderne vollzogen haben; Kleidungsstil, Frisuren, Darstellung.

Heinrich Kühn, Bildnis von Hans Kühn, 1907.

Kinderdarstellungen waren schon in der Antike und im Mittelalter unter den Herrschenden beliebt, und auch gesellschaftlich gefordert. Ging es meist um etwaige ThronfolgerInnen und um Prestige und ihrer Zurschaustellung. Wer kennt nicht die Kindergemälde aus der Zeit der Habsburger in Österreich und Spanien, der Bourbonen in Frankreich, Italien und Spanien der Frühmoderne oder selbst auch die Bildnisse von Kindern aus Bürgerhäusern. Hier ging es um Erbschaftsprinzipien, gesellschaftliche Stellung und Veranschaulichung von Wohlstand und Fortbestand.

Wenn das Fotomuseum mitteilt, ein Bildnis vom eigenen Kind zu besitzen oder später sich selbst als Kind betrachten zu können sei anfangs eine Rarität und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein gehüteter Schatz gewesen, dann ist genau dieser Hintergrund gemeint. Nur reiche und wohlhabende Menschen konnten sich den Auftrag für ein Gemälde und einer Fotografie leisten. Erst mit der Massenfabrikation von Fotokameras begann das Zeitalter der Banalisierung der Fotografie zum reinen Gebrauchsmedium für Jedermann. „Was vorher die bildende Kunst nur einigen wenigen ermöglichte, ist seit der Erfindung der Fotografie für alle Menschen möglich geworden.“

Diese Aussage gilt umso mehr im Zeitalter der massenhaften individuellen Bildproduktion, die per Bildtelefon. Heute sind Kinderbilder für jeden eine absolute Selbstverständlichkeit. „Es ist kaum zu glauben, dass diese Entwicklung erst vor 180 Jahren und damit erst vor sechs Generationen begann“, wird seitens des Museums festgestellt und stellt die Historie der Fotografie mit 280 Fotografien u.a. mit berühmten Namen wie Wilhelm von Gloeden, Giorgio Sommer, Hugo Erfurth oder Heinrich Kühn dar.

Das Deutsche Fotomuseum, 04416 Markkleeberg, Raschwitzer Str. 11, ist ab jetzt wieder täglich außer Montag von 13 bis 18 Uhr geöffnet.

Zur Webpräsenz des Museums

Moderne in Holz – Leipziger Schulneubau folgt ökologischen Ideen

Daniel Thalheim

 

Ursprünglich befand sich an dieser Stelle Gemeinschaftsunterkunft für Migranten. Am 1. Juli 2020 wurde durch OB Burkhard Jung in Leipzig eine neue Schule eröffnet. Sie befindet sich im Stadtteil Reudnitz am Barnet-Licht-Platz. Konzipiert wurde das Gebäude in Modulbauweise aus Holz. Innerhalb von knapp eineinhalb Jahren wurde die neue Schule für rund 27 Millionen Euro fertiggestellt, weiß die Stadtverwaltung mitzuteilen.  Konzipiert wurde das Gebäude vom Architektenbüro Kaden+Lager. Unter ihrer Ägide entstand eine vierzügige Oberschule in Holzmodulbauweise. Der Werkstoff
Holz besitzt sowohl in der Fassade als auch in den Innenräumen nicht nur eine hohe
optische und haptische Qualität.

Die Verwendung von Massivholz ist unter heutigen Gesichtspunkten gesehen auch ökologisch und nachhaltig. „Mit der Schule am Barnet-Licht-Platz übergeben wir heute ein ansprechendes ökologisches Gebäude in Holzbauweise an die Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, … “, sagt Leipzigs OB Burkhard Jung zu einem nicht ganz gewöhnlichen Bauwerk. Sie ist die erste Oberschule dieser Art in Sachsen überhaupt, meldet das Architekturbüro.

Kaden+Lager ist bekannt für seine Verwendung von Holz für Innenräume und Fassaden. Das von ihnen entwickelte neue Campusgebäude in Witten-Herdecke besitzt eine Holzfassade, wird bis 2021 realisiert sein. Die Arbeit mit vorgefertigten Holzmodulen wird auch an einem Schweizer Skiausflugshotel ausprobiert. Der Entwurf zeigt ein 150 Meter langes Kreissegment, das sich im Gebirge wie ein Panorama spannt. Über sich selbst sagt das Büro, dass Konstruktivität und Soziabilität ihre Architektur charakterisiere. Prinzip sei es, mit dem Holz als Baumaterial geringere Kosten, kürzere Bauzeiten, präzisere Umsetzungen der architektonischen Vorgaben und eine bessere Öko-Bilanz umzusetzen. Weiter heißt es vom Architekturbüro, Holz ist ein Instrument städtebaulicher Verdichtung, dass ihnen erlaubt, hier wie auch bei weiteren Projekten das Haus von der Erschließung, von Treppe und Fahrstuhl abzurücken und den Blockrand geradezu demonstrativ zu öffnen und das Innere nach Außen zu kehren. „Das Haus wird zu einem sozialen Ereignis, zu einer räumlich höchst interessanten Komposition unterschiedlich perforierter Volumina, die im Raum der Stadt interagieren.“

Beitragsbild: Visualisierung der Leipziger Oberschule am Barnet-Licht-Platz. Die Realisierung fand 2020 statt. Bild: Kaden+Lager 2020.

Zur Webpage von Kaden+Lager

Thomas Dienberg Leipzigs neuer Stadtbaurat – Wird die Messestadt fahrradfreundlicher?

Daniel Thalheim

Nach sieben Jahren Amtszeit nimmt die scheidende Baudezernentin Dorothee Dubrau ihren Hut. Unter ihrer Ägide entstanden in Leipzig Großbauprojekte. Wohnen und Stadtentwicklung standen auf dem Plan. Nun soll Göttingens ehemaliger Stadtbaurat Leipzigs neuer Beigeordneter für Stadtentwicklung und Bau werden. In seine Amtszeit fällt der Ausbau Göttingens zur fahrradfreundlichen Stadt auf. Ein Signal auch für Leipzig?

Wie die Stadtverwaltung am 23. Juni 2020 mitteilt, könnte Thomas Dienberg Leipzigs neuer Baudezernent werden. Oberbürgermeister Burkhard Jung schlägt den Leipziger Vertretern der Ratsversammlung Thomas Dienberg als neuen Beigeordneten für Stadtentwicklung und Bau der Stadt Leipzig vor. Eine Auswahlkommission empfiehlt ihn als geeignetsten Kandidaten. Dienberg geht aus einem Bewerbungsprozess aus einer Konkurrenz von insgesamt 24 Bewerbungen hervor. Die Auswahlkommission bestand aus dem Oberbürgermeister, Vertreterinnen und Vertretern des Stadtrates sowie der Verwaltung. Der neue Beigeordnete wird in der Ratsversammlung am 8. Juli zur Wahl gestellt. Wenn die Wahl einstimmig auf Dienberg fällt, wird er ab dem 1. September 2020 die neue Aufgabe ausfüllen.  Als Nachfolger von Dorothee Dubrau sind er und sein Dezernat in seinen Aufgaben maßgeblich vom Wachstum der Stadt geprägt und mit den damit einhergehenden Herausforderungen befasst. Dienberg wird künftig eine behutsame Stadt- und Quartiersentwicklung im Sinne des Integrierten Stadtentwicklungskonzeptes  in Einklang mit dem herrschenden Bauboom, modernen Erfordernissen einer Großstadt sowie ökologischen und technologischen Herausforderungen von Architektur bringen. Dazu gehört auch wie die historisch gewachsene Stadtstruktur erhalten bleibt. Wohnen, Gewerbe, Mobilität und Bauen müssen unter einen Hut gebracht werden.

Thomas Dienberg war bis 2019 als Stadtbaurat Leiter des Dezernates für Planen, Bauen und Umwelt der Stadt Göttingen. Offenbar wurde Dienberg, wie es aus der Presse- und Medienlandschaft hervorgeht, im Streit entlassen. Göttingens Oberbürgermeister Ralf-Georg Köhler (SPD) schlug den Northeimer nicht für eine dritte Amtszeit vor. „Die Chemie zwischen beiden stimmte offenbar nicht immer“, heißt es in der HNA Anfang 2020. Doch schon 2019 wurde bekannt, dass Dienberg ab Februar 2020 vom Amt freigestellt werde. Für Dienbergs Freistellung habe es aus Sicht des Göttinger OB Köhler verschiedene Gründe gegeben. „Und man kann sich sicher vorstellen, dass damit eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit etwas schwierig sein kann“, gibt er Ende 2019 dem Göttinger Tageblatt Auskunft. Wahrscheinlicher ist, dass Dienberg über die politischen Ränke der Grünen stürzte, die das Göttinger Baudezernat neu strukturieren wollen und sich ein eigenes Umweltdezernat wünschen, heißt es im Mai 2019 in der Tageszeitung „Göttingen“.

Dienberg hatte die Position als Göttingens Stadtbaurat für zwei Wahlperioden von 2004 bis 2020 über insgesamt 16 Jahre inne. Zuvor war der studierte Diplom-Ingenieur der Raumplanung und Assessor des Baufachs bereits für drei Jahre Leiter des Göttinger Stadtplanungsamtes gewesen. Weitere berufliche Erfahrungen konnte er im Bauordnungs- und Hochbauamt der niedersächsischen Stadt Northeim sowie in einem Beratungsunternehmen sammeln. Vor allem soll Dienberg zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur für Fahrradfahrer beigetragen haben. Nach den Worten des Göttinger Bauausschussvorsitzenden, Hans Otto Arnold, spiele die 100.000-Einwohner-Stadt Göttingen in der ersten Liga von fahrradfreundlichen Städten wie Münster (300.000 EW +) und Freiburg (200.000 EW +) mit. Ein Verdienst, der sich auch für Leipzig mit seinen knapp 600.00 Einwohnern auszahlen könnte?

Am 8. Juli 2020 wurde Thomas Dienberg mit 45 Ja-Stimmen, 15 Enthaltungen und drei Nein-Stimmen bei der Ratsverordnetensitzung für sieben Jahre zum Dezernenten für Stadtentwicklung und Bau gewählt.

 

Wohnen auf dem Supermarkt – Warum ein Entwicklungskonzept ein falsches Signal aussendet

Daniel Thalheim

Warum Wohnen auf dem Supermarkt nicht ökologisch ist

Wohnen ist den Gesetzen des Marktes unterworfen. Seit einigen Jahren setzt in Deutschland ein Trend ein, dass Supermarktketten Einkaufen und Wohnen miteinander verquicken. So soll der Wohnungsnot begegnet werden. Auch in Leipzig greift dieses Konzept um sich. Wer genauer hinschaut, bekämpfen Kommunalpolitiker und Verwaltung Feuer mit Feuer. Denn Leipzigs Potenzial liegt wortwörtlich auf der Straße, nicht auf dem Parkplatz. Dennoch melden die Leipziger Grünen am Freitag den 19. Juni, dass sie sich über die Strategie der Leipziger „Konsum“-Zentrale, Wohnungen auf ihre Kaufhallen zu stapeln, freuen. Die traditionsreiche Einkaufs- und Handelsgenossenschaft kündigt vier große Bauvorhaben in Marienbrunn, Südvorstadt, Prager- und Lützner Straße an, die geplante Marktneubauten mit Wohnen integrieren sollen. Die Leipziger Grünen selbst haben 2018 einen Antrag in die Ratsversammlung eingereicht, die das Mischkonzept Wohnen und Einkaufen in Leipzig stärker forcieren wollen – und halten dieses Unterfangen für eine gute Idee. Dazu hat es 2019 einen „Kaufhallengipfel“ gegeben. Es wurde öffentlich darüber diskutiert , wie man bei Neu- und Umbauten von eingeschossigen Lebensmittelanbietern urbane Flächen verdichten und so neuen Wohnraum schaffen kann. Auf dem ersten Blick ergibt der Vorstoß der Grünen Sinn. Läge Leipzig so voll im bundesweiten Trend, wie seit einigen Jahren schon Medien wie das ZDF und FAZ darüber berichten, wie Lebensmittel-Discounterketten, diese Konzepte verwirklichen. In Wirklichkeit hat eine Stadt wie Leipzig mit stadtplanerischen Fehlern der DDR-Zeit und der Schrumpfungsphase nach der Wiedervereinigung zu kämpfen. Das Ansinnen der Grünen, mit Hilfe von Lebensmittelketten, Leipzig zu verdichten wird die Qualität des Wohnens jedoch weiter herabsetzen. Außerdem gehen die Grünen Kompromisse ein, die ihr politisches Ansinnen, die Stadt grüner zu gestalten, untergraben. Parkplätze sind nicht ökologisch. Außerdem wird die Idee marktorientierten Prinzipien unterworfen; Stammkundengewinnung. Die Vielfalt von Einzelhändlern wird auf diese Weise unterbunden. Die Grünen verhelfen Strukturen Auftrieb, die von plastikverpackten Billigprodukten, Massentierhaltungsprodukten und prekären Arbeitsverhältnissen profitieren. Das Automobil als individuelles Transportmittel wird ebenfalls direkt gefördert. Zwar schaffe man mit Supermarkt-Wohnkonzepten so in Leipzig mithilfe des „Konsum“-Konzeptes 2300 zusätzliche Wohnungen, verkennt aber dabei auch wie dadurch die sozial-integrative Strukturen, die mit dem seit den 1860er Jahren bis ca. 1910 eingesetzten Bau der Ladenstraßenzüge nach französisch-englischem Vorbild Leipzig bis in die Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts weitestgehend prägten, zerstören bzw. in ihrer Neuentwicklung behindern. Auf diese Weise wird auch die Sinnhaftigkeit des ÖPNV angezweifelt. Das US-amerikanische Vorbild des Einkaufens mit dem Auto ist schwer im deutschsprachigen Raum zu integrieren; Flächen werden so zerstört, nicht-ökologisch und auch nicht nachhaltig genutzt, hinzu kommen auch der immense Verbrauch von Strom und Wasser. Zwar werden, wie die Grünen richtigerweise feststellen, eingeschossige Supermärkte der Vergangenheit angehören. Doch ökologisch nachhaltig ist das neue Konzept auch nicht, nur Augenwischerei. Oder anders formuliert; wer hoch stapelt wird sich wundern, welche Potenziale die Stadt mit ihren historischen Strukturen wirklich hat und so ungenutzt auf der Straße liegen. Und Fußläufigkeit hat nichts damit zu tun, über Haustreppe und Lift in den nächsten Supermarkt zu gelangen.

 

 

Nachhaltige Stadtentwicklung fördert Kleinhändler, Mini-Strukturen und Beschäftigung

 

Als Leipzig seit den 1860ern massiv erweitert und mit den heute noch hübsch anzuschauenden Gründerzeitbauwerken aufgefüllt wurde, dachten die Planer an die Verquickung von Handel und Gewerbe mit Wohnen. Stadtviertel waren gleichzeitig auch Netzwerke, wo Schulabgänger Ausbildungsplätze vor Ort finden konnten, eine Vielzahl von Einzelhändlern, Privatfirmen und Geschäfte vielfältige Angebote bereit hielten. In den Hinterhöfen befanden sich Handwerker und Gewerbebetriebe mit ihren Ateliers und Büros; auch Gärten und andere kleinteilige Nutzflächen konnte man hier finden. Die verdichtete Stadt war bereits Wirklichkeit. Sie war um 1900 nicht besonders ökologisch gedacht. Die Reformideen, die in Leipzig auch in der DDR-Zeit verfolgt wurden, ließen Teile der Stadt in reine Wohnquartiere umwandeln. Eine Fehlentwiclkung, die sich nicht besonders integrativ auf die Sozialstrukturen innerhalb von Wohngebieten ausgewirkt hat. Auch Schrumpfungsprozesse und Verfall verstellten die Chancen, zerstörte und perforierte Straßenzüge nach historischen Vorbildern zu rekonstruieren und mit ökologischen Prinzipien aufzufüllen; Urban Gardening, Co-Working-Studios, Ladengeschäftszeilen, die klassische Eckkneipe oder das Café in der Nähe. Dieses Prinzip funktioniert überall in Leipzig. Stadtplanerisch hat man sich darauf versteift in jedem Stadtteil andere Angebote zu bereiten. Daher haben wir eine Ballung von Mono-Strukturen auf Georg-Schumann-Straße, Eisenbahnstraße, Karl-Liebknecht-Straße und Karl-Heine-Straße. In den vergangenen dreißig Jahren wurden auch Discounterstrukturen nach US-amerikanischen Vorbild geschaffen, die heute nicht mehr so einfach zu entfernen sind. Das Krebsgeschwür des aggressiven Finanzmarktkapitalismus sitzt zu tief und ist tonangebend bei den voran genannten Wohn- und Diskont-Mischstrukturen. Die Leipziger Stadtverwaltung, sprich v.a. das Dezernat für Bau und Stadtentwicklung sollte in Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsdezernat viel eher Kleinhändlerstrukturen unterstützen und so auch die historisch gewachsenen Strukturen erhalten als auf eine weitere Perforierung setzen. Mit dem Wohnstapel-Konzept macht man den Bock zum Gärtner, man gibt so viel aus der Hand, was vielleicht durch eine behutsame Rückführung in historisch gewachsene Strukturen, wieder wachsen könnte.

Sorgengetriebene Grüne – Die unbegründete Angst um Verlust der Markthalle auf dem Leuschnerplatz

Daniel Thalheim

Die Grünen im Leipziger Stadtrat hatten Angst. Sie fürchteten, dass ihr Vorhaben, auf dem Leuschnerplatz eine Markthalle nach historischem Vorbild, scheitern würde. Dazu gibt es einen 2008 gefassten Ratsbeschluss. Doch die Nutzungsbedingungen und Ausschmückungen wie die Markthalle zu nutzen sei, sind schlichtweg nicht realistisch. Den Grünen schwebt ein reines Bio-Waren-Nutzungskonzept vor. Aus Sicht von Artefakte ein eindimensionales Vorhaben. Ein Vorbild wie das Metropol Parasol in Sevilla, einem Mehrzweckzentrum für verschiedene Veranstaltungen, sollte auch für eine Leipziger „Markthalle“ maßgeblich sein.

Die Grünen kennen ihre Lobby nicht

Wie in anderen Berichten von Artefakte zur Markthalle und ihrer Nutzung bereits lang und breit begründet, besinnen sich Stadtobere europaweit auf den kulturellen Nutzen von sogenannten Markthallen. Auch Leipzig liegt mit einer lang anhaltenden Debatte im Trend, hechelt jedoch auch hinterher. Was im historischen Kontext vor einhundert Jahren als Frischwarenumschlagplatz zur Verteilung von Lebensmitteln auf die Kleinmärkte und Frischwarengeschäfte in den einzelnen Leipziger Stadtteilen noch funktionierte, ist spätestens mit der Etablierung der US-amerikanischen Supermarktkultur aufgehoben worden. Die Grünen wollen in einer neuen Markthalle auf dem Leuschnerplatz einen Biowaren-Umschlagplatz einrichten. Sicherlich denken die Grünen dabei auch an ihren geschätzten Bioladen-Lobbyisten Malte Reupert, der mit Sicherheit sein Biomare-Geschäft von der Karl-Liebknecht-Straße ins Zentrum verlegen könnte. Doch den Grünen geht es um eine Frischmarkthalle, wie sie es im Januar dieses Jahres als Anfrage an den Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) formulierten – auch aus Angst, die seit Jahren forcierte Realisierung der Markthalle könne scheitern. Die Gründe für die Verzögerungen liegen laut Leipzigs Baudezernat woanders. Offenbar kennen die Grünen ihre eigene Lobby nicht; Umweltschutzverbände wie der Naturschutzbund haben die Planungen laut Stadtplanungsdezernat, in dessen Referat ebenfalls ein ex-Grünenfraktionsmitglied sitzt, verzögert. Die Interessengruppen für Naturschutz vertreten die Meinung, dass die Brachenverwilderung naturschutzrechtlich zu schützen sei. Auf der Seite des BUND Leipzig wird das Erreichte aus den Verhandlungen mit dem Stadtbaudezernat publiziert: „Der BUND Leipzig wird ab dem 01.04.2019 die Brachflächen auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz für öklogische Projekte nutzen. Dies ist das Ergebnis langer Verhandlungen mit dem Bauamt und dem Amt für Wirtschaftsförderung. Auf dem bisherigen Parkplatz wird ein Wagenplatz im Passivhausstandard errichtet. Die Markthallen-Fläche wird mit Hochbeeten zum blühenden Obst- und Gemüsegarten. Eine „Give-Box“ ermöglicht das unkomplizierte Weiterverschenken von Kleidung und Haushaltsgegenständen.“

Leipzigs Baudezernentin Dorothee Dubrau begrüßte damals die Einigung zwischen Stadtverwaltung und BUND: „Da der Streit um die Bebauung des Leuschnerplatzes noch länger dauern könnte, wollten wir die Flächen so schnell wie möglich öffentlich nutzbar machen und aufwerten. Der BUND Leipzig hat uns mit einem guten Konzept überzeugt. Vielleicht ist dies ja auch mehr als nur eine Zwischenlösung.“

Illusion „grüne Stadt“?

Auch der Naturschutzbund beklagt aufgrund der Lückenschließungen eine Schrumpfung von natürlichen Brachflächen, die für geschützte Arten wahre Oasen sind. Dass Naturschutz mit zeitgemäßem Bauen im Einklang stehen kann, hat Artefakte auch in aller Tiefe und Breite beleuchtet. In Architektur und Stadtplanung integrierte Natur ist heute kein Schreckgespenst mehr. Dazu benötigt es Fördermaßnahmen und auch Sonderbaurechte, um Naturschutzgärten in Wohnkarrees und an öffentlichen Gebäuden zu ermöglichen. Im Hier und Heute ist mehr möglich als noch in den 1880er Jahren als Leipzig durch den Bauboom aufgrund Eingemeindungen und Auffüllungen ganzer Waldgebiete in den Vororten der schnell wachsenden Messestadt jede Menge Grün verlor. Dagegen steht die Schrebergärtenentwicklung, die in dieser Zeit ebenfalls als soziale Idee – natürlich aus dem Umfeld und der Mitte der in Leipzig gegründeten SPD entstanden – aus England weitestgehend übernommen und auf hiesige Bedürfnisse umgewandelt wurde. BUND und Nabu dürfen den Erfolg dieser Entwicklung nicht außer Acht lassen. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Bild Leipzigs von einem bürgerlich-urbanen „Auwaldstädtchen“ zur hochindustriell entwickelten Metropole. Leipzig ist Braunkohlegebiet. Im 20. Jahrhundert entstanden riesige Braunkohletagebaustätten, die seit 30 Jahren re-naturiert werden. Leipzig erlitt aufgrund des zurecht fehlenden Heimatschutzes aus NSDAP-Zeiten einen herben Verlust an Altbausubstanz zugunsten der heute heimatgeschützten Plattenbausiedlungen aus der ideologisch geführten Wohnraumpolitik in der DDR; daher entstanden auch Brachen und Lücken. Die perforierte Stadt war noch vor zehn Jahren in Leipzig ein Thema – auch damals schon wurde über ihren Erhalt debattiert, weil doch Leipzig eine „grüne Stadt“ ist. Die Abholzungen der Alleebäume auf der Karl-Liebknecht-Straße wurde geschluckt, die Austrocknung des Auwaldes zugunsten eines forstwirtschaftlich und touristisch nutzbaren Stadtwaldes wird die nächste bittere Pille sein, die die Grünen und die Naturschutzverbände schlucken dürften. Dies ist ein Mehrfrontenkrieg zum Erhalt der „grünen Stadt“, und eine Illusion. Dies zeigt sich auch am Vorgehen von Naturschutzgruppen und Grünen in der Umnutzung des Döseners Parkklinikums – einer Gegend, die bereits vor 100 Jahren für ein Siedlungsgebiet ausgeschrieben war und wegen des steigenden Energiebedarfs der Stadt teilweise für Tagebauplanungen ruhen blieb. Dass dort noch längst nicht eine Gedenkstätte zur Erinnerung an Euthanasie und Zwangssterilisierung von Kindern, Erwachsenen und politischen Gefangenen errichtet wurde, ist ein weitaus größerer Skandal als eine Zubringerstraße in die Klinikparkstadt. Leipzig war bereits 1913 längst nicht mehr so „grün“ wie Naturschutzverbände uns den Zustand seit 1990 glauben lassen möchten. Anstatt sich in Gefechtsstände gegen den Bauboom zu begeben, sollten Naturschutzverbände und Grüne mit Haus und Grund, Bauherren und Architekten in Austausch treten, dass Kindergärten nicht an Hauptstraßen unter gewaltigen Umweltschutzauflagen sondern direkt in Innenhofkarrees in den Wohngebieten entstehen, dass Supermarktketten beauflagt und gefördert werden, Stadtpflanzer-Beete, Imkerstationen und Grünanlagen in ihre Architektur integrieren und die daraus entstehenden Produkte direkt im Markt verkaufen, dass Bauherren für Neubauprojekte grundsätzlich diese Form des integrativen und sozialen Miteinanders in die Planungen einbeziehen, und natürlich auch gefördert werden. Das wäre nicht illusorisch, sondern eine echte „grüne Politik“.

Stattdessen fordern die Grünen wegen der erweiterten Nutzung einer vielleicht zu realisierenden Markthalle auf dem Leuschnerplatz mit ihrer im Januar 2020 eingereichten Anfrage an den OB Burkhard Jung, in das Objekt ein Sportmuseum und eine Großsporthalle zu integrieren und noch viel abstruser: „Auch fordern die 5-Sterne-Hotels in der Innenstadt schon lange einen Hubschrauberlandeplatz, der problemlos auf dem Dach zu realisieren wäre. Die von einigen (wie in Dubai`s Marina) erträumte Seilbahn könnte die Gäste dann direkt zum Hotel bringen und hätte einen wirklichen touristischen Mehrwert.“

Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Wohnbebauung am Bayrischen Bahnhof – Architektonische Ideenlosigkeit und Funktionalität setzen sich in Leipzig fort

Daniel Thalheim

Was seit dem 11. März im Neuen Rathaus ganz groß als „Wohnen in der Kohlenstraße“ gezeigt und medial aufgebauscht als „wertig gestaltete Fassaden“ angekündigt wird, sind nichts als Potemkinsche Dörfer. Die Visualisierungen der Wettbewerbsbeiträge zeigen nur das, was im Rahmen gesetzter Vorgaben, Vorlagen und Normen erreichbar ist. Der Tellerrand des baukünstlerisch Möglichen hängt nicht von einer Fassadenstruktur ab, sondern von der infrastrukturellen Aufladung integrierten Wohnens, Arbeitens und Zusammenlebens, das über das erdenkliche Maß der selbst auferlegten und seit 100 Jahren existierenden Sparzwänge der räumlichen Gliederungen eines Quartiers und ihrer räumlichen Binnentrennung von Arbeit und Wohnen, hinausgeht.

Leipzig setzt auf überholte Binnenstrukturen im Wohnen und Bauen – Wie Architektur mental schädigen kann

Das Bauen im Deutschland der Klassischen Moderne, da reden wir vom Ende des Zweiten Deutschen Kaiserreiches bis in die Zeit der Weimarer Republik und ihrer Rudimente einschließlich 1945, ist vor allem vom Materialsparzwang geprägt, nach 1945 dann von der Maßgabe Gebäude aus Beton zu errichten. Wohnen ist möglichst kleinteilig und billig zu halten. Die Infrastrukturen in den randstädtischen Trabantensiedlungen ist faktisch auf Supermärkte und Zentrenstrukturen beschränkt, in ländlichen Gebieten entwickelt sich die gesellschaftliche Struktur ebenfalls zurück. Sogenannte Neubauviertel wie in Leipzig-Grünau, Leipzig-Lößnig und Leipzig-Paunsdorf sind nichts weiter als das Einpferchen von wirtschaftlich schwach aufgestellten Menschen. Architektur wird so als Reinkultur der Diskriminierung und Ausgrenzung benutzt und wird auch behördlich so festgelegt.  Die eng geschnittenen Wohnungen dieser durchgenormten Arbeiterschließfächer der DDR sind auch noch denkmalgeschützt. Sie sollten eher Beispiele für desintegratives Wohnen herabgesetzt, abgerissen und lediglich Teile dieser Typenwohnungen in Museen ausgestellt werden. So hat man durch Sparzwänge und Normierung ein ganzes Land einzulochen versucht. Dass sogar in westdeutschen Städten der Bonner Republik so ein Bauen möglich war, ist umso schrecklicher.

Wettbewerbsergebnis für das erste Wohnquartier am Bayerischen Bahnhof zwischen Dösner Weg und Bahntrog. 1. Rang für das Architekturbüro Kaden + Lager. © Kadfen + Lager GmbH
Wettbewerbsergebnis für das erste Wohnquartier am Bayerischen Bahnhof zwischen Dösner Weg und Bahntrog. 1. Rang für das Architekturbüro Kaden + Lager. © Kadfen + Lager GmbH

Was damals vor 40 Jahren noch galt gilt heute noch. Die Klassische Moderne und Postmoderne wird lediglich wiederholt, variiert und als alter Wein in neuen Schläuchen angepriesen. Gebaut wird derzeit auch nur, um den motorisierten Individualverkehr Folge zu leisten. Ökologie ist inzwischen eine in Paragrafen gepresste Norm geworden, die weitaus weniger ökologisch ist als man ihr im tatsächlich Bauen Vorschub leisten könnte. Was dieser Tage in Leipzig u.a. von der Stadtbau Wohnprojekte GmbH, einer Tochter der Stadtbau AG, der Öffentlichkeit vorgestellt wird, schließt sich im wesentlichen dem Charakterzug des Bauens der Post-Moderne an; blockhafte Lochfassadenstrukturen, „aufgelockert durch die Horizontale aus offen gelegten Loggien. So gesehen sind die gezeigten Entwürfe eine schematisch auf dem Reißbrett gestochene Pappmaché-Häuser einer Siebzigerjahre-Vorstadtsidylle ähnlicher als urbanes Wohnen heute im internationalen Maßstab verstanden wird. Zauberworte wie „Barrierefreiheit“, „Tiefgaragen“, „Sonnen- und Wärmeschutz“ verbrämen das eigentliche Ziel von Stadtteilentwicklung. Mit Entwürfen wie diesen macht man Leipzig zu einer leblosen Schlaf- und Wohnstadt. Dabei ist die Zeit des vor 100 Jahren noch innovativ gedachten Reformbauens in dieser Form – Blockrandbebauung mit grünen Innenhöfen – längst vorbei. Auch der scheinbar großzügig gedachte Stadtteilpark hilft über die Einfallslosigkeit der Entwürfe nicht hinweg. Das Schlimme daran ist; öffentliche Diskussionen wie eine Stadt wie Leipzig heute auszusehen hat, gab es im Vorfeld des Wettbewerbes nicht. Der Ausspruch „Im Kleinen ein Pedant, im Großen ein Dilettant“ verdeutlicht die Unfähigkeit planerischen Denkens sowohl im Baudezernat als auch in Jury und Architekten, dass Architektur heutzutage wesentlich nachhaltiger gedacht werden muss. Das schafft man nicht mit voneinander getrennten Mitweltsegmenten Wohnen, Freizeit und Arbeit, sondern mit ihrer Verdichtung und Verschränkung. Ganz so, wie Städte – nicht nur in Europa – vor 200 Jahren gedacht wurden. Auch Leipzig lebte von dieser Verschränkung von Wohnen und Arbeiten. Das war nicht immer schön anzusehen, auch nicht wohl zu schnuppern. Wohnen und Gewerbe hingen miteinander zusammen. Jetzt sind von ursprünglich innovativen Ideen nur noch Wohn- und Kinderstall übrig geblieben. Kulturelle Belebung wird zugunsten einer leeren Sterilisierung gestrichen. So will man selbst nicht auf dem Land leben.

Die segmentierte Sterilität von Wohnen (Erholung) und Arbeit (Lärm und Stress) weicht ausgehend von Südostasien immer mehr auf. Wann dieser Trend endlich Europa erreichen wird, von einem Nationalstaat wie Deutschland mag man auch innerhalb der Redaktion Artefakte nicht mehr reden, sondern einer binnengeliederten Verwaltungs- und Wirtschaftsstruktur Mitteleuropa von Frankreich bis Polen, steht hingegen noch in den Sternen. Dass Architektur „rund“ sein muss, verstehen heute immer noch die wenigsten, geschweige sie beschäftigen sich damit und bezeichnen Entwürfe von organisch gebauten Stadtteilgliedern als „utopisch“, also als unerreichbar und zu weit hergeholt. An solchen Argumentation merkt man, dass die falschen „Experten“ derzeit das Sagen haben, die Sachverwalter, die Paragrafenreiter, die Scheuklappendenker und die Bedenkenträger.

Wettbewerbsergebnis für das erste Wohnquartier am Bayerischen Bahnhof zwischen Dösner Weg und Bahntrog. 2. Rang für nps Tchoban und Voss Architekten. © nps Tschoban Voss Architekten
Wettbewerbsergebnis für das erste Wohnquartier am Bayerischen Bahnhof zwischen Dösner Weg und Bahntrog. 2. Rang für nps Tchoban und Voss Architekten. © nps Tschoban Voss Architekten

Wie heute gebaut werden muss

Man muss sich von einer denkmalschützerischen bzw. heimatschützlerischen Idee im Städtebau zunächst einmal entfernen, bzw. den großflächigen Denkmalschutz von Wohngebieten abschaffen und auf ein nötiges Maß beschränken. Die Wohn- und Industriegebiete der Gründerzeit waren für eine Lebensdauer von maximal 30 bis 40 Jahren gedacht. Wie stark die Verwerfungen des damaligen Bauens zu Heute sind, zeigt sich in der Beeinflussung von Architektur auf die Psyche. So kleinteilig und platzsparend das Bauen im Zuge der Reformbewegungen des 20. Jahrhunderts auch war, so epochal kleingeistig ist dieses Bauen gedacht: die Wohnmaschine ist das Haus im Kleinen, für den Geringverdiener gedacht, der Komfort ist faktisch nicht vorhanden. 

Was vor 100 Jahren als innovativ galt, platzsparend, All-in-One, reicht heute nicht mehr. Dabei hilft auch die Debatte nicht, wieviel Raummeter einer bzw. zwei Personen zustehen, wie man Wohnverhältnisse deutschlandweit seit der Agenda 2010 denkt und umsetzt. Auch preislich müssen Kategorisierungen wirtschaftlicher Natur wegfallen; der Baupreis darf nicht den Mietpreis bestimmen. Die Bauvorgaben dürfen nicht den Baupreis bestimmen. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Kinderbetreuung, Grünes sowie Erholung und Kultur müssen nicht zwangsläufig räumlich voneinander getrennt werden.

Die Gasometercity in Wien als Beispiel Sozialen Bauens

2001 wurden die alten, 1899 in Wien errichteten, Gasversorgungstürme revitalisiert. Die ehemals größten Gasspeicher der Welt beherbergen nun Wohnungen, Büros, ein Studentenheim, ein EInkaufszentrum und eine Konzerthalle in sich. Nach den 2013 erfolgten Umbauten, stehen die Gasometer ganz im Zeichen der Musik; drei Ausbildungszentren, einige Fachgeschäfte und zwei weitere Veranstaltungsräume komplettieren die Gasometer aus seinen charakteristischen vier Türmen als musikalisches Herz von Wien.

Für die Gestaltung der vier Gasometer-Türme ließen sich die Investoren nicht lumpen. Schließlich ist Wien Bundesland und österreichische Hauptstadt. Das Herz des ersten Gasometers trägt die Handschrift des französischen Star-Architekten Jean Nouvel. Die riesige Dachkuppel lässt das Tageslicht ins Innere fallen, beleuchtet sowohl die Wohn- und Bürosegmente als auch das darunter liegende, dreigeschossige  Einkaufszentrum.

Weitere Wohnungen und ein Studentenheim beherbergt das zweite, von Coop Himmelb(l)au gestaltete, Gasometer. Dieser Turm erhielt zudem noch einen angebauten Flügel, der den Turm in einem Abstand zu ihm umspannt. Oberhalb der Halle für Rockkonzerte und andere Veranstaltungen sind Wohnungen und Studentenheim untergebracht. Später wurde eine Passage mit einem Ausbildungszentrum hinzugefügt.

Manfred Wehdorn gestaltete das Innere des dritten Gasometerturms. Vom Art Nouveau der Wiener Moderne inspiriert, ist der Komplex mit viel Grün durchzogen. Wilhelm Holzbauer füllte den vierten Turm mit Wohnsegmenten im Inneren, anders als es bei den anderen Türmen geschah. Unter diesem Wohnbereich isz das Stadt- und Landesarchiv Wien eingezogen. Auch ein Musikfachgeschäft befindet sich in dieser Zone. Alle Loggien und Grünflächen der Wohnungen zeigen auf die Außenmauer des Gasometers. 

Insgesamt wurden in allen vier Türmen über 600 Wohnungen geschaffen, 11.000 QM Bürofläche, 20.000 QM Einkaufsmeile, 7.000 QM Konzerthalle, 1.000 Stellplätze für PKW, 12 Kinosäle, 35 KM Regallänge sowie knapp 16.000 QM Büro- und Stellfläche für das Wiener Stadt- und Landesarchiv. Rund 1.600 Menschen fwohnen hier, in den Büros und Zentren werden rund 600 Menschen beschäftigt. Dass dieses Projekt verwirklicht werden konnte, benötigte einen Planungszeitrahmen von über zehn Jahren. 1989 wurden erste Studien und Gutachten erstellt, 1999 erfolgte der Spatenstich. Ungefähr hundert Jahre zuvor, 1892, wurde die Baugenehmigung für die vier Gasometertürme erteilt. Von 1896 bis 1899 wurden die Türme errichtet. Erst 1985 wurden sie, inzwischen denkmalgeschützt,  außer Betrieb genommen. In den inzwischen ausgeräumten Außenhüllen tobte die freie Kulturszene sich aus: Techno-Parties und Filmdreharbeiten fanden bis in die Neunzigerjahre hinein hier statt. 

Wenn auch der Umbau nach streng voneinander getrennten Bereichen erfolgt ist, so demonstrieren die Türme doch eins: ein Umdenken in Bauen und Wohnen kann auf diese Weise erfolgen. Durch den Umbau hat man ein wertvolles Stadtquartier geschaffen, das im Kleinen auch für Leipzig funktionieren würde. Ist die Wiener Gasometer-City beispielgebend für eine Neues Bauen im urbanen Sinne? Durchaus: nur dass Grün und Wohnen, mit KiTas und Einkaufsmöglichkeiten durchaus innerhalb von Leipziger Wohnblock-Karrees erfolgen könnte, Wohnen und Stadtteilpark architektonisch miteinander verknüpft sind. Und Gasometer hat Leipzig auch, nur dass sie viel kleiner als die in Wien sind.

Was Soziale Architektur und Sozialer Städtebau heute bedeutet

Integratives Bauen ist kein stilistisches Mittel, um ästhetisch angenehm Wohnbauten zu errichten, sondern ein Prozess, wo Räume unterschiedlicher Nutzung miteinander verknüpft und gegenseitig einbezogen werden. Weil eben verschiedene Nutzungsebenen in einem Quartier miteinander veschränkt sind bzw. sein könnten, besitzen sie einen partizipatorischen und demokratischen Charakter. Genau dieser Charakter war im Städtebau der Industrialisierung von Bedeutung; Wohnen und Arbeiten in Stadtquartieren organisiert. Da werkelte im Hinterhof der Handwerksmeister mit Gesellen und Lehrlingen, dampften mitunter auch Schlote der Kleinbetriebe wie Malerfirmen, Kunst- und Bauschlossereien, Kürschnergeschäften, Maurerbuden, Tischler- und Möbelwerkstätten, aber auch die Gerüche aus Bäckereien und Metzgereien waren allgegenwärtig. Die Eckkneipe und die Gasstube waren ebenfalls immer vorhanden. In den Straßenzügen befanden sich Kleingeschäfte, wie sie jetzt noch im Großteil in den Wiener Bezirken 6 und 7 zu sehen sind; Drogerien, kleine Fachmärkte, Wein- und Käsegeschäfte, Milchläden, Getränkehändler, Fleischer und Gemüsehändler, und in den Gründerzeitgebäuden mittlerweile integriert; Supermärkte im Miniformat. In Deutschland, speziell in Leipzig, sieht die Situation anders aus. Bis 1990-92 existierte hier und anderswo in Ostdeutschland noch das Bild, das noch um 1900 die Straßenzüge prägte. Im Zuge der Umstrukturierungsprozesse zugunsten großer und mit dem erreichbaren Auto Einkaufszentren und Supermärkte fielen diese Ladenzeilen weg. Ein Kneipensterben setzt in Leipzig seit der Wiedervereinigung ein, aber auch seit einigen Jahren ein Sterben der lokalen Kulturfreiszene. Stattdessen sehen wir normierte Neubauten und umstrukturierte Altbauviertel, denen es an fußläufig erreichbaren Ladengeschäften, Handwerkern, KiTAs etc. fehlt. Eine Inklusion findet nur mithilfe getrennt voneinander existierenden Lebens- und Arbeitsbereichen statt. 

Selbstbauarchitektur, Soziale oder Partizipative Architektur sind, wie die Architekturzeitung „Detail“ 2015 schreibt, ohne diese Neupositionierung des Planers nicht möglich. „Während allerdings der soziale Anspruch der Moderne noch von einem ungebrochenen Fortschrittsglauben und elitären Utopismus getragen wurde, und man glaubte, die sozialen Veränderungen mit Hilfe der Technisierung und Industrialisierung erreichen zu können, zwingt uns die ökologische und soziale Not heute dazu, sich der vorhandenen „primitiven“ Ressourcen zu versichern,“ erläutert Architekt Anh-Linh Ngo während seines Vortrags zur „Sozialen Architektur“ während des Detail Research Forums 2015 in München. Ngo verdeutlicht aus der Position eines industriell geprägten Architektenverständnisses heraus, das in den USA und Ostasien im 20. Jahrhundert durch seine Wolkenkratzerbauwerke und reinen Wohnstädten verwirklicht wurde, etwas, das in Europa um 1900 unter anderen Gesichtspunkten bereits formuliert wurde. Die Verwendung lokaler Materialien, traditioneller Konstruktionen und Bautypen, aber auch ihres traditionell überlieferten Gebrauchs, sind für zeitgenössische Architekten plötzlich wieder Prinzipien integralen Wohnens und Arbeitens. Ebenso impliziert dies, so „Detail“ weiter, mit den eigenen Händen an der Seite der künftigen Nutzer zu arbeiten, und damit das Bauen zu einem sozialen Bauen zu erheben. 

In Leipzig ist dieses Prinzip bereits vorhanden. Nach der ersten Gründerzeitwelle von den 1880ern bis 1910ern Jahren, wo Quartiersentwicklung eng mit den Prinzipien von Arbeiten und Wohnen zusammenhing, finden wir kurz vorm Ersten Weltkrieg neue Paradigmen wieder, die wir bereits in den Reformbestrebungen in England ausgehend der ersten Industrialisierungswelle um 1800 sehen; Erholung und Wohnen werden nebeneinander gestellt. Der Arbeiter, der tagsüber oder während der Schichten im Werk für den Unterhalt seiner Familie sorgt, bewirtschaftet zusammen mit seiner Familie in der Freizeit einen Garten oder an einem Haus angeschlossene Grünfläche. Die daraus entstandene Gartenstadtidee fand in Leipzig erste Umsetzungen mit der Gartenstadt Marienbrunn. In der Weimarer Zeit und in der Phase bis 1939 wurde diese Idee immer mehr vergrößert. Blockrandbauten umspannten Grünflächen. In der Nähe wurden Schrebergärten angelegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Quartiersanlagen aufgelockert. Die Wohnscheibe und das Punkthochhaus verdrängten in vielen Städten Ostdeutschlands, aber auch in vielen Städten der Bonner Republik die Blockrandbebauung. Sogenannte Trabantenstädte entstanden, reine Wohnstädte mit einem oder mehreren kleinen Einkaufszentren, einigen Lokalversorgern und schnell erreichbaren Infrastruktur aus ÖPNV, Schulen, KiTas und Poli-Kliniken. Bestes Beispiel für diese Entwicklung ist das Wohnquartier in Neu-Lößnig in Leipzig, auch, wegen seines so benannten Einkaufscenters, im Volksmund so titulierten „Moritz-Hof“ bekannt. Ngo sieht die Rolle des Architekten in dieser Entwicklung gefragt, dass ein Umdenken im Bauen stattfinden muss; weg vom Wohnquartier hin zum integralen Quartier der kurzen Wege. „Social Design“ ist so ein Zauberwort, wie es die Online-Zeitschrift „BauNetz“ seit 2016 beschreibt. Doch statt ästhetischer Leitlinien sollte es nach dem italienischen Architekt Massimiliano Fuksas um etwas anderes gehen: „Less aesthetics, more ethics“. Architekten sollten ihre Bauprinzipien zugunsten einer ethisch vertretbaren Bau- dun Stadtentwicklung ändern und weniger ästhetischen Zauber betreiben, um irgendwelche Preise einzuheimsen. Dass dieses, von Fuksas vertretene, Prinzip ein „Neues Bauhaus“ sein soll, wie Deutschlandradio Kultur seit 2014 überschriftet, ist ein wenig architekturhistorisch zu weit gegriffen. Was aber viele Architekten mittlerweile verstehen ist die Verwendung natürlicher und regional erreichbarer Materialien in Verknüpfung mit moderner Technologie.

Neu gebaut muss in Leipzig nur selten. Wenn es aber um eine neue Aufwertung der Wohnquartiere gehen muss, dann sollten die planierten Innenhöfe der Altbaukarrees auf folgende Funktionsverschiebungen geprüft werden; KiTa-Standorte im Mini-Format, Tief- und Hochgaragen, Mini-Supermärkte bzw. Ladengeschäftszeilen mit Zufahrtmöglichketen und, auch von Wohnungen erreichbaren, integrierten Grünflächen. Progressive Ideen, die in der Leipziger FDP und beim Präsident der Sächsischen Eigentümervereinigung Haus und Grund René Hobusch (FDP), aber auch bei der Leipziger CDU und SPD, angekommen sind, jedoch nicht bei Linken und Grünen. Obwohl diese, durchaus ökologisch-sozialen, Ideen, wie sie der Verfasser dieser Zeilen auf Artefakte seit 2012 publiziert und auch in der LEIPZIGER ZEITUNG 2015-2016 formuliert hat. Würden beispielsweise zu Stadtteilparks begrünte Tief- und Hochgaragenanlagen zu von Autos entleerten Wohn- und Nebenstraßen führen, würden wohnortnahe KiTAs das Auto stehen lassen, Geschäftszeilen in den Karree-Kernen, womöglich auch in den Hauptstraßen, den Autoverkehr minimieren. Dabei sind Bauordnungen und Baurechte zu überprüfen, aber auch Baugrund und die Förderungen durch öffentliche Mittel. Die Zukunft sieht autolos bzw. autoarm aus. Die Verdichtung von Wohnquartieren auf soziale und kulturelle Grundprinzipien des menschlichen Zusammenlebens wird zu neuen Inklusionseffekten führen, menschlichen Zusammenhalt die Solidargemeinschaft stärken. Das Wohnen am Bayrischen Platz, wie sie derzeit propagiert wird, erfüllt diese zukunftsweisenden Prinzipien nur ansatzweise. Dass Bäume auch aufs Haus gehören können, zeigen unterschiedliche Beispiele weltweit, auch in Europa, wenn dort auch nur modellhaft. Im Zuge steigender Verdichtungsprozesse in den Städten ist die Verknüpfung von Natur und Wohnen unumgänglich.

Weiterführende Links:

https://www.soziale-architektur.de/artikel-details/soziale-architektur-ist.html

https://www.detail.de/artikel/soziale-architektur-und-die-rolle-ihres-architekten-13247/

https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Hans_Sauer_Preis_vergeben_4733693.html

https://www.deutschlandfunkkultur.de/neuer-stil-soziale-architektur.1005.de.html?dram:article_id=293522