Ans Herz gefasst – Interview mit dem Liedermacher Felix Meyer

Felix Meyer on Tour im Frühling 2016 (Foto: M. S. Schulz / Löwenzahn / PR)
Felix Meyer on Tour im Frühling 2016 (Foto: M. S. Schulz / Löwenzahn / PR)

„Fasst euch ein Herz“ heißt die vierte Studioscheibe des immer bekannter werdenden Pflastersteinmusikanten Felix Meyer. Mehrfach schon gastierte er in Leipzig. Die ihn betreuende Plattenfirma „Löwenzahn“ hat in der Messestadt ebenfalls seinen Sitz. Am 15. April weilt er erneut in Klein-Paris. Dieses Mal treibt es ihn in das Täubchenthal. Im folgenden Interview spricht er über seine Herzensangelegenheit – die Musik.

Vom Straßenmusiker zum Bühnenbespieler in ausverkauften Häusern. Ist es Zeit, ein Fazit zu ziehen?

Das Projekt „Felix Meyer“ ist jetzt ungefähr sieben Jahre alt. Es befindet sich gerade an dem Punkt, wo wir von der Straße weggeholt wurden. Das ist eigentlich auch schon ein paar Jahre her, aber wir haben dann doch länger Straßenmusik gemacht, als sich manch einer das vielleicht gewünscht hätte. Es hat uns einfach soviel Spaß gemacht, dass wir immer weiter machen mussten, aber nun ist so langsam mit dieser Straßengeschichte Schluss. Ich hab jetzt 20 Jahre Straßenmusik gemacht, das reicht nun. Wir sind inzwischen wirklich auf der Bühne angekommen und haben in den letzten Jahren zwischen 60 und 70 Konzerte und Festivaltermine gespielt und fühlen uns da recht wohl. Wir sind dort angekommen und wir haben das Gefühl, da gehören wir auch hin.

Was ist das „Project île“?

Seit einigen Jahren ist es die gleiche Band, bestehend aus insgesamt sechs Leuten, mit mir. „Project île“ ist deswegen entstanden, weil wir seit Jahren schon überlegen, ob wir einen Namen für diese Bande finden könnten. Es gab ganz früher schon mal einen, als wir ohne eigene Lieder durch Europa getingelt sind – eben diesen Bandnamen „Project île“, was eine Art Fantasiemischwort aus Englisch und Französisch ist und sozusagen das Inselprojekt beschreibt. Mit denen waren wir schon jahrelang unterwegs und als ich jetzt mal wieder die Band gefragt habe, was sie sich für einen Bandnamen vorstellen könnten, sagte Claudius zu mir: „Lass uns doch einfach den nehmen, den ihr früher schon hattet, der ist doch hübsch“. Nun heißt es Felix Meyer und „Project île“, um eben der Band auch mal ein Gesicht und einen Namen zu geben.

Was hat sich bei diesem Album musikalisch gegenüber den Vorgängern geändert?

Von der Art und Weise die Lieder zu entwickeln, hat sich gar nicht so viel verändert, aber dadurch das es vor drei Jahren eine Änderung in der Besetzung gab, sind die Tasteninstrumente wichtiger geworden und vor allem die Art der Aufnahme hat sich verändert. Während wir die ersten drei Studioalben so produziert haben, dass wir eigentlich mit relativ rohem Material ins Studio gegangen sind und dann vor Ort erst die Lieder entwickelten, haben wir es diesmal anders herum gemacht. Wir konnten die Lieder vorher schon und wussten in allen Einzelheiten, wie sie klingen sollen. Wir haben auch Testkonzerte veranstaltet, also ein paar Konzerte vor Publikum nur mit dem neuen Programm gespielt. Mit dieser Erfahrung sind wir ins Studio gegangen und haben die Sachen alle live eingespielt. Das hatten wir vorher noch nie getan. Wir hatten aber immer davon geträumt mal eine Platte ganz live aufzunehmen, so dass man merkt, dort stehen Leute zusammen in einem Raum und machen Musik. Im Gegensatz zu den Platten davor, bei denen erst das Schlagzeug aufgenommen wird, dann der Bass und anschließend wird alles noch dreimal zerhackt und wieder neu zusammengesetzt. Am Ende hat man gar nicht mehr unbedingt das Gefühl, dass da Menschen in einem Raum zusammen Musik gemacht haben und das hat man bei der neuen Platte sehr deutlich, was ich sehr schön finde. Man wird in zehn Jahren noch genau vor Augen haben, wer in diesem Studio stand und kann an den Instrumenten, die Persönlichkeit jener Leute erahnen, die das Album gespielt haben.

In welchem Studio fanden die Aufnahmen statt und was war eventuell im Studio diesmal anders?

Die ersten drei Studioalben sind bei Franz Plasa in Hamburg entstanden. Da wir diesmal etwas anderes ausprobieren wollten, haben wir das erste mal mit Thommy Krawallo zusammengearbeitet. Der hat sich in Brandenburg in einem kleinen Dorf ein Schulhaus gekauft, in Golzow, und hat dort ein wunderschönes Studio. Es liegt mitten in der Natur, hinten fließt ein Fluss lang. Es gibt tolle, große Räume und man fühlt sich dort schnell sehr wohl. Da wir die Lieder vorher schon vor Publikum gespielt hatten, haben wir in einer Woche im Grunde genommen das ganze Album eingespielt. Ich fuhr dann irgendwann noch mal hin und habe gesungen und es kamen die Chöre dazu. Aber was die Band angeht, sind wirklich innerhalb einer Woche die 12 Lieder im Kasten gewesen.

Vergleichen Sie ihre Alben miteinander?

Als wir die erste Platte „Von Engeln und Schweinen“ damals aufgenommen haben, das war 2009 oder 2010, kamen wir von der Straße und waren eigentlich vollkommen überfordert mit dem, was da im Studio passiert. Das war eine Welt, die kannten wir so überhaupt nicht. Es ging plötzlich um Streicherarrangements, um Gastmusiker, die dort auftauchten oder oft auch auftauchten, wenn wir gar nicht da waren, aber später auf dem Album zu hören sind. Das hat uns alles ein bisschen überfahren, aber nicht unangenehm. Wir fanden es natürlich ganz toll damals, dass soviel gemacht wurde und so viel passiert. Eine eigene Sprache, einen eigenen Stil hatten wir damals eigentlich noch gar nicht. Wir hatten bis dahin ja auch nur Songs nachgespielt und haben das dann erst nach und nach entwickelt und uns eine eigene Musik zusammengespielt, die über die Jahre immer deutlicher geworden ist. Das hat sich von Album zu Album immer mehr dahin entwickelt, dass wir wussten, wie es klingen soll und was am Ende das Produkt sein soll, aber nicht so konsequent, wie wir bei dem jetzigen Album. Dadurch dass wir diesmal alles live aufgenommen haben, vorher alles klar sein musste und selbst die Soli in dem Moment mit drauf gespielt wurden, ist ein komplett anderer Sound entstanden, als wir ihn bisher hatten. Auch was die Instrumente oder den Sound angeht, ist einiges dazugekommen. Es gibt sehr sphärische Klänge, die von verschiedensten Tasteninstrumenten kommen, es gibt sehr schöne Gitarren-Slide-Soli. Es ist einiges an Sounds dazugekommen und an Atmosphären, die wir vorher so noch nicht hatten oder die eben konstruiert wurden. Diesmal sind sie aber wirklich so gespielt und so kann man sie auch auf die Bühne bringen.

Wenn Sie einen Satz mit dem Wort „Klangkosmos“ bilden würden, wie würde dieser Satz lauten?

Da wir uns genau vorher überlegen mussten, wie wir diese Platte aufnehmen, weil wir es eben live aufnehmen wollten, mussten wir uns wirklich über jede Zutat für die Lieder vorher einigen und so ist zu dem Klangkosmos einiges hinzu gekommen. Es gibt Tasteninstrumente, die wir vorher noch nicht benutzt haben, Slide-Gitarren sind dazugekommen und das alles ergibt ganz andere Klänge, als sie auf den vorherigen Alben vorkommen. Vor allem ist es aber auch so, dass wir diese Klänge live auf der Bühne ganz leicht reproduzieren können, weil sie eben nicht dadurch entstehen, dass eigentlich 20 Spuren über einander liegen, wir aber auf der Bühne nicht 20 Musiker sind. Diesmal haben wir diesen Klangkosmos zu sechst erzeugt. Das macht es auf der einen Seite einfacher, aber eben auch wuchtiger. Das Album hat eine ziemliche Wucht.

Unter welchem Stern steht eigentlich der Albumtitel „Fasst euch ein Herz“?

Der Satz „Fasst euch ein Herz“ hat ja in der heutigen Zeit schon fast etwas Parolenhaftes. Das kann man bestimmt positiv, wie negativ sehen. Es ist eine sehr verrohte Zeit, es droht gerade wieder alles sehr rau zu werden da draußen oder ist es sogar schon. Insofern ist dieser Satz „Fasst euch ein Herz“ genau so gemeint und auch nicht besonders privat gemeint, sondern wirklich als Parole, als Aufforderung an die Menschen „mit dem Herzen zu denken“, wie Konstantin Wecker so schön sagt.

Um welche Themen drehen sich die Songs?

Es gibt in jeder Art von Musik wahrscheinlich diesen großen Themenbereich Liebe. Der muss immer vorkommen, der muss auch bei mir immer vorkommen, weil das Thema Liebe sich über ein Leben weiter entwickelt und man immer neue Gedanken oder Gefühle dazu hat. Es ist über die letzten Jahre aber auch immer gesellschaftlicher und gesellschaftsrelevanter geworden. Nachdem wir die ersten Jahre, wie gesagt, sehr viel auf der Straße spielten und auf der Straße diese Gesellschaft an uns vorbeizog und wir uns Gedanken dazu machten, wie die so rüberkommt, haben wir in den letzten Jahren sehr viele Liedermacher und Musiker kennengelernt, von Norbert Leisegang über Wenzel, Prinz Chaos, Cynthia Nickschas bis hin zu Konstantin Wecker. Mit ihnen haben wir gerne mal länger gesessen und die eine oder andere Flasche Rotwein zusammen getrunken. Dabei haben wir festgestellt, dass unter Musikern doch relativ klar ist, dass alle das Gefühl haben, irgendetwas läuft grundsätzlich schief in dieser Welt und jeder auf seine Art und Weise textet dagegen an. Es ist natürlich ein schönes Gefühl zu merken, dass man mit dieser Idee von einer anderen, vielleicht einer besseren Welt, nicht alleine ist, sondern dass man sich in einer Gruppe Gleichdenkender bewegt. Das spiegelt sich auf dieser Platte mehr denn je wieder.

Haben Gastmusiker mitgewirkt, wenn ja, welche?

Wir haben auf der Platte ein paar Gastmusiker und Gastschreiber dabei. Ein Lied haben wir zum Beispiel mit Norbert Leisegang von Keimzeit zusammen geschrieben. Das war sehr schön. Erik und ich haben uns im Frühjahr 2015 mit ihm in Brandenburg getroffen, in einem kleinen Häuschen im Wald zwischen vielen kleinen Seen. Wir haben das eine oder andere Lagerfeuer angezündet, abends schön zusammen gegessen und uns immer wieder hingesetzt und versucht zusammen Texte und Lieder zu schreiben. Eines ist daraus entstanden, es heißt „Die Auflösung“ und ist auch auf dieser Platte gelandet. Dann gibt es Cynthia Nickschas mit der wir seit 2 Jahren hin und wieder zusammen Musik machen. Wir haben schon öfter zusammen auf der Bühne gestanden und Cynthia und ich haben viel zusammen gesungen. Dabei haben wir gemerkt, dass unsere Stimmen wahnsinnig gut zusammenpassen. Sie hat eine sehr rotzige, rockige Stimme, was mir sehr gut gefällt, weil es eine ungewöhnliche Frauenstimme ist. Die beiden Stimmfarben passen irgendwie wahnsinnig gut zusammen. Dann gibt es noch Sarah Lesch, eine junge und ganz fantastische Liedermacherin mit einer sehr feinen und zerbrechlichen weiblichen Stimme – ganz schön. Sie singt in dem Lied, das wir mit Norbert Leisegang zusammen geschrieben haben. Konstantin Wecker haben wir über Cynthia Nickschas und Prinz Chaos kennengelernt, die sowohl bei uns auf der Bühne als Gäste waren, als auch bei ihm auf der Bühne. So kamen wir in den Genuss, im letzten Jahr einige Konstantin Wecker Konzerte anzuhöhren, was sehr schön war. Dadurch haben wir eben auch Zeit mit ihm verbracht und es entstand die Idee, dass man vielleicht mit ihm zusammen etwas singen könnte. Er singt nun den Refrain von „Fasst euch ein Herz“ mit.

Was möchten Sie mit diesem Album beim Publikum bestenfalls bewirken?

Ich hab das Gefühl, das wir mit der Platte „Fasst euch ein Herz“ da angekommen sind, wo wir musikalisch auch stehen wollen. Wie das dann beim Publikum ankommt, kann man vorher natürlich überhaupt nicht sagen, aber ich hoffe natürlich, dass die Leute genau das darin hören, was wir hinein gespielt haben, nämlich, dass sie uns genau so hören, wie sie uns kennen. Musikalisch und textlich ist es eine logische Weiterentwicklung von dem, was wir bisher gemacht haben. Wir sind von der Straße irgendwann auf die Bühne gekommen und das ist es auch, was man der Musik auf dieser Platte anhört. Man hört weniger Straße als früher und mehr Bühne, ob Theater- oder Kinobühne. Die Musik ist teilweise Kino, teilweise Theater und ein ganz kleiner Hauch Straße ist auch manchmal noch dabei.

Warum haben Sie einen Teil der Finanzierung des Albums über eine Crowdfunding-Aktion unternommen?

Ja das ist wunderschön, mit diesem Crowdfunding. Wir haben ja früher viel mit Plattenfirmen experimentiert oder die haben mit uns experimentiert, wie man es auch immer sehen will. Das war schon o.k., da waren auf jeden Fall sehr viele gute Momente dabei und sie haben uns auf unserem Weg nicht nur begleitet, sondern auch wirklich weiter gebracht. Sie haben uns natürlich Türen geöffnet, die wir ansonsten vielleicht nicht aufbekommen hätten. Aber da wir jetzt mit unserem Publikum direkt ausmachen können, ob es eine neue Platte geben soll oder nicht und unser Publikum uns dann Teile der Produktion sozusagen vorfinanziert über das Crowdfunding, ist das auf jeden Fall ein Schritt in Richtung einer größeren Unabhängigkeit, ganz sicher.

Was muss man als Publikum mitbringen, um Felix Meyer gut zu finden?

Was man mitbringen muss, um uns gut zu finden? Naja, man muss jetzt nicht unbedingt ein Buch mitbringen, aber wenn man schon mal eines gelesen hätte, wäre das nicht so schlimm. Ich denke, die Leute, die unsere Musik mögen, haben in ihrem Leben auch schon einige Liedermacher gehört, haben sich vielleicht viel mit Chanson beschäftigt. Ich denke, dass sie auf jeden Fall gesellschaftlich denken, dass sie sich Gedanken über den Stand der Dinge in diesem Land und auf der Welt machen, dass Liebe für sie eine Rolle spielt und dass „Fasst euch ein Herz“ für sie eine Parole sein könnte, die sie anspricht. Das hoffe ich auf jeden Fall.

Was: Felix Meyer „Fasst euch ein Herz“-Tour
Wo: WERK 2
Wann: 15. April 2016, 20 Uhr
Eintritt: 27,70 EUR

Felix Meyer „Fasst euch ein Herz“ – Tour 2016
14.04.16 Berlin Heimathafen
15.04.16 Leipzig Täubchenthal
16.04.16 Jena Volksbad
17.04.16 Dresden Alter Schlachthof
19.04.16 Frankfurt Brotfabrik
20.04.16 Stuttgart Im Wizemann
21.04.16 München Milla
23.04.16 Zwickau Alter Gasometer
24.04.16 Hannover Kulturzentrum Faust
26.04.16 Köln Stadtgarten
27.04.16 Hamburg Knust
28.04.16 Rostock Circus Fantasia
29.04.16 Stralsund Alte Brauerei
30.04.16 Magdeburg Moritzhof

 

Zum WERK-2-Programm plus Kartenverkauf

http://www.loewenzahn-verlag.com/Seiten/FelixNeu.html

http://www.felixmeyer.eu

Musikalische Komödie – Mit neuem Leitungsteam in die neue Saison

Torsten Rose, Cusch Jung, Stefan Klingele, v.l.n.r., bilden das neue Leitungsteam der MuKo (Foto: Oper Leipzig/Presse)
Torsten Rose, Cusch Jung, Stefan Klingele, v.l.n.r., bilden das neue Leitungsteam der MuKo (Foto: Oper Leipzig/Presse)

Kürzungsszenario hin oder her, mal pro Freie Szene mal pro Musikalische Komödie. Die Diskussionen über den Umzug der „MuKo“ in die Oper am Augustusplatz und die Öffnung des Hauses in der Dreilindenstraße für die Freie Szene scheinen der Vergangenheit anzugehören. Es wird eifrig saniert, und zusätzlich startet das neue Programm mit drei neuen Köpfen.

Standort kulturpolitisch gesichert

Schließung der Muko, oder doch nicht? Umzug ins Opernhaus am Augustusplatz, dann doch nicht. Freie Szene rein in das Muko-Haus, dann wiederum nicht. Die Diskussionen über den Fortbestand der Musikalischen Komödie als Ganzes wurde heftig und kontrovers diskutiert. Bis hin zur Frage, wieviel Kultur sich Leipzig leisten kann. Übrig geblieben ist ein Status Quo, der für alle Beteiligten eine annehmbare Lösung zu sein scheint. Während wohl noch ausgerechnet wird, dass das Stiefkind Naturkundemuseum in ein Fabrikgebäude auf der Alten Baumwollspinnerei zusammen mit zwei Theatern der Freien Szene ziehen könnte, was aufgrund der voraussichtlich teuren baulichen Maßnahmen, die erfolgen müssen, um Archivalien sicher und nach Archivgesetzen lagern zu können, nicht kommen wird, hat das Musical- und Operettenhaus in Lindenau eine Zukunft vor sich – am alten Ort.
Und die Musikalische Komödie hatte nie das Besucherproblem wie die Oper. Das wird künftig auch so bleiben. Alle Zeichen stehen für das Haus in der Dreilindenstraße auf Neuanfang. Das Operettengebäude aus den Zeiten des Jugendstils hat die turbulenten Jahre zumindest kulturpolitisch hinter sich. Als Ulf Schirmer als neuer Opernintendant nach Leipzig kam, setzte er sich für den Erhalt des 1913 errichteten Hauses als Spielort für Operetten und Lustspiele ein. Da ging es nicht nur um Kunst, sondern auch um die Künstler und die Belegschaft. Solisten, Chor, Ballett und Orchester können nun gemeinsam mit drei Neuen weitermachen.

Ein paar Zahlen

Betriebsdirektor Torsten Rose, Chefregisseur Cusch Jung und Musikdirektor Stefan Klingele haben bis 2020 Zeit, die Musikalische Komödie in Fahrt zu bringen. „Es kommt mir darauf an, dass sich die Musikalische Komödie als selbstdenkende Einheit in enger Abstimmung mit der Oper am Augustusplatz entwickelt“, so Opernintendant Ulf Schirmer. „Vor Ort wissen die Menschen besser was notwendig ist. Sie müssen die Mittel dafür erhalten und enger Verabredung miteinander und mit der Oper agieren.“
Betriebsdirektor Rose, der an der Staatlichen Ballettschule Leipzig studierte und 1991 als Ensemblemitglied des Balletts seine Tätigkeit an der Musikalischen Komödie begann, sowie in der Spielzeit 2001/02 er Chefdisponent und 2008/09 Künstlerischer Produktionsleiter des Operetten- und Musicalhauses der Oper Leipzig gewesen war, ergänzt: „Ich sehe auch in den kommenden Jahren in meiner Arbeit die Herausforderung, der Kunst die Freiheit zu geben, sich zu entwickeln und neue Wege gehen zu können, um den Ansprüchen unseres wachsenden Publikums gerecht zu werden. Ein weiteres wichtiges Anliegen ist es mir, nach dem wir für die Mitarbeiter angemessene Arbeitsbedingungen schaffen konnten, mit den von der Stadt bereit gestellten finanziellen Mitteln, die Sanierung des Zuschauerraumes umzusetzen, um den Theaterbesuch auch optisch zu einem Erlebnis werden zu lassen.“
Nur ganz kurz zur Info: Die Oper Leipzig erwirtschaftet laut aufgestelltem und von der Ratsversammlung verabschiedeten Wirtschaftsplan in diesem Jahr ein Minus von knapp über 800.000 Euro. Womöglich sind die außerplanmäßig hohen Tariferhöhungen Ursache für das Minus. Die Stadt Leipzig hat diese Erhöhung nicht in ihren Zuwendungen aus dem Kulturhaushalt eingerechnet, so dass die Erhöhungen durch die Oper kompensiert werden müssen. Während man im Wirtschaftsjahr 2014 noch mit einem kleinen Überschuß von 12.000 Euro rausging, steht ein fettes Minus vor der Jahresbilanz 2015. Das Minus will die Oper aus den Jahresüberschüssen der vergangenen Jahre decken.
Man geht davon aus, dass 45,2 Mio. Euro an Zuwendungen von der Stadt in das Haus am Augustusplatz fließen werden, 2018 dann schon 45,75 Mio Euro. Von dem Geld leisten sowohl Oper als auch „MuKo“ ein Pensum von 143 bzw. 145 Vorstellungen im Jahr. Für die MuKo ist eine Auslastung von 75 Prozent vorgesehen, also will heißen: man erwartet gut gefüllte Vorstellungen. Für ein Plus an Zulauf sollen Vorstellungen für Kinder und Theaterpädagogische Angebote sorgen.
Vor allem die MuKo hat ein Problem mit der Sanierung. Die neue Saalbestuhlung wird auf sich warten lassen, wenn nur 75.000 Euro für Sanierungen an beiden Häusern – also Oper und MuKo – zur Verfügung stehen. Dabei benötigt das Operettenhaus in Lindenau 40.000 Euro allein für die Erneuerung der Fenster, sowie 40.000 Euro für die Elektronikinstandsetzung. Zum Vergleich: allein 900.000 Euro beötigt die Oper allein für Sanierungsarbeiten.

Ein zu polierender Diamant

„In meiner Funktion als Chefregisseur werde ich mich besonders um die Pflege der Operette und des Musicals aber auch der wieder erwachenden Nachfrage nach Revuen widmen“, kündigt Cusch Jung den neuen alten Kurs an. Der aus Kaiserslautern stammende Regisseur war seit 1981 in zahlreichen Hauptrollen des Theater des Westens Berlin, an den Theatern in Dortmund und Bonn, dem Metropol-Theater Berlin, Theater am Kurfürstendamm, dem Deutschen Theater München und dem Theaters Basel, Colosseumtheater in Essen, dem Operettenhaus Hamburg zu sehen. Seine Regietätigkeiten führten ihn an das Volkstheater Rostock, das Theater St. Gallen, Opernhaus Halle, Pfalztheater Kaiserslautern und die Brüder Grimm Festspiele Hanau. An der Musikalischen Komödie inszenierte er „Jekyll & Hyde“ sowie „Der Graf von Monte Christo“. An der Oper Leipzig trat er 2014/15 als Kommissar Shrank in „West Side Story“ und 2015/16 als Butler Brassett auf. Mit der Inszenierung des Wildhorn-Musical „Dracula“, wird Cusch Jung im April 2016 garantierten Gruselfaktor auf die Lindenauer Bühne bringen und seinen Einstand als neuer Chefregisseur feiern. „Es gilt diesen Diamanten – die MuKo – noch strahlender und glänzender zu polieren. Geschichten und Storys müssen gefunden werden, mit denen sich verschiedene Generationen heutzutage identifizieren können. Diese Geschichten werden wir in einer Bild- und Regiesprache auf die Bühne bringen, die unseren heutigen Sehgewohnheiten entspricht. Große historische und spannende Geschichten im Musical, in der Operette mit Bezug auf heute und vor allem nach 1900 sollten im Vordergrund stehen. Auch die englische Operette zum Beispiel von Gilbert & Sulivan werden das Repertoire erweitern.“

Man will das Haus mit Nostalgie füllen, einst glanzvolle Zeiten wieder aufleben lassen. Und das Hier und Jetzt? Musikdirektor und Chefdirgigent Stefan Klingele weiß wie. Der aus Ingolstadt stammende Dirigent machte an der Hochschule für Musik Würzburg in Dirigieren und Violoncello seine Ausbildung. Von 1996 bis 1999 war er als Dirigent im Staatstheater am Gärtnerplatz München beschäftigt. Von 1999 bis 2007 am Bremer Theater engagiert. In der Spielzeit 2006/07, in der er als Interims-Chefdirigent die Oper Bremen leitete, wurde diese von der Zeitschrift „Die Opernwelt“ zum „Opernhaus des Jahres“ gewählt. 1999 wurde Klingele der Bayerische Förderpreis verliehen, 2006 der Kurt-Hübner-Preis Bremen. Seine Produktion „Intolleranza 1960“ (Luigi Nono) in der Staatsoper Hannover erhielt den Musiktheaterregiepreis „Der Faust“ des Bühnenvereins für die beste nationale Premiere in der Spielzeit 2010/2011. Stefan Klingele gastiert an zahlreichen Bühnen u.a. an der Semperoper Dresden, der Königlichen Oper Stockholm, dem Nationaltheater Weimar, der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf, der Staatsoper Hannover und an der Wiener Volksoper. Seine jüngsten Konzerte waren mit der Norddeutschen Philharmonie Rostock, dem Uppsala Kammerorchester, der Jönköping Sinfonietta, dem Orchester des Teatro Massimo in Palermo, der Hofkapelle Stockholm und dem Staatsorchester Halle. Er sagt: „Operette, Spieloper, Revue und Musical sind und bleiben hier zu Hause und deshalb begegne ich der Verantwortung und der weiteren Entwicklung mit Leichtigkeit und großer Freude. Mit dem Zauber unseres Saals möchte ich viele neue Besucher von jung bis alt verführen und dafür plane ich zusätzliche Konzertformen: „Klangfarben neu“ als einzigartiges Hörerlebnis mit reichen, schönen Chor- und Orchesterklängen aus der grandiosen Kuppel ist dafür ein guter Beginn. Der fertiggestellte Neubau und weitere bauliche Planungen beweisen mir, dass die Politiker dem treuen Leipziger Publikum unsere Institution mit Überzeugung bewahren und ausbauen wollen – das ist eine hohe Verpflichtung für mich.“

Am 17. Oktober startet die erste Premiere an der „MuKo“ die Johann-Strauß-Operette „Wiener Blut“ will ein Stück weit den geist von 1900 heraufbeschwören. Mit dem Prokofjew-Stück „Peter und der Wolf“ ist das Haus bereits in die Saison gestartet.

Mehr Information und Spielplan auf der Muko-Seite

Zorn und Aufstand – The Heroine Whores

The Heroine Whores (Bild: Artefakte / Leipziger Kulturgeschichten 2014)
The Heroine Whores (Bild: Artefakte / Leipziger Kulturgeschichten 2014)

Sie kommen aus LE und nicht aus L.A., schon gar nicht aus der Grunge-Hauptstadt Seattle. „The Heroine Whores“ klingen aber so. Die 2009 gegründete Combo zieht nach ihren kurzen Intermezzi in CD-Form im Jahr 2013 erneut alle Register der Karohemden-Musik.

Neue Langrille, neues Video. Das sächsische Duo, das manchmal auch als Trio seine Kreise zieht, verschreibt sich Klängen, die Kenner als Schnittmenge aus „Nirvana“, „Hole“ und „Tad“ bezeichnen würden. Tarcy Mirinda und Drummer Martin suchen aber die Nähe zur „Riot Grrrl“-Szene, die, wie „Grunge“, Anfang der Neunziger Jahre in den USA geboren wurde. Bands wie  „Hole“, „Bikini Kill“, „Babes In Toyland“ und „L7“ standen für den Aufstand gegen die männerdominierte Rockmusik- und Hardcore-Punk-Szene, und das ziemlich erfolgreich. Auf MTV der Neunziger Jahre lief der neueste Stoff der Rebellinnen rauf und runter. Jetzt ist das aber nicht mehr so. Aber „The Heroine Whores“ zählen gemeinsam mit Frauenbands wie „Valentiine“ aus Australien zur neuen Generation der „Riot Grrrl“-Szene. Das Leipziger Duo bezieht sich auch auf neue Musikeinflüsse, wie „Drone“, das seit seinem Vierteljahrhundert als Gebrumm durch den Untergrund flackert.
Riot Grrrls mögen es wie die Kerle deftig. Das ist sowohl musikalisch als auch textlich so. Frontdame Tarcy Mirinda zu ihren Gedichten: „Ich kann keinen guten Song schreiben, wenn es mir gut geht. In meinen Texten kann das Ausdruck finden, was ich im Alltag nicht auszudrücken vermag. Schmerz, Wut, Zorn, Trauer – das sind meine Inspirationen.“
Die Worte drehen sich nicht um sie selbst allein. „Oft erzähle ich auch die Geschichten anderer, die ich gelesen oder gehört habe und füge kleine eigenerlebte Gefühle oder Details ein. Ich muss die Geschichte und deren Zorn spüren, ich muss darin aufgehen und es dann herausschreien“, sagt Tarcy.
2015 werden die aktuellen Nummern auch in Leipzig ausgiebig vorgestellt. Bei einem noch nicht fest stehenden, aber geplanten, Benefizkonzert für die Leipziger Heavy-Metal-Kneipe „Helheim“, wollen die „Heroine Whores“ im Bandhaus die Trommel rühren. Ob Tarcy und Martin erneut hinter einem Eiswagen hinterher laufen, wie sie im Interview ihren Lauf im neuesten Video zum Song „Future Youth“ lachend kommentierten, wird sich zeigen. Klatschnass werden sie aber mit Sicherheit von den Brettern steigen. „Soaked“ heißt auch ihr neues Album.

Mehr Informationen auf ihrer Webseite

Liebe zur Musik – Dark Suns

Großes Besteck: Dark Suns 2014 (Bild: Promo)
Großes Besteck: Dark Suns 2014 (Bild: Promo)

„Zurück in die Zukunft“ heißt das Motto der Leipziger Prog-Rock-Combo Dark Suns. Die 1997 in Zerbst gegründete Band ist in internationalen Kreisen wohlbekannt. Auf vier Studiowerken begingen die Jungs um die Brüder Maik und Niko Knappe sowie Gitarrist Torsten Wenzel ihre musikalische Reise. Ein weiterer Markstein wird 2015 gesetzt. Auch ihre Konzertauftritte stehen den auf Konserve gebannten Eindrücken in nichts nach. 2013 in Indien und Nepal unterwegs gewesen, wird es Zeit, die Leipziger mit neuem Stoff anzuheizen. Am 10. Januar bestreiten sie erneut einen Auftritt. (Von W. E. Wilcox)

„Konzertreisen sind absolut unser Ding!“, betont Saitenmagier Torsten Wenzel im Interview. Er räumt auch ein, dass eine Tournee oftmals mit dem beruflichen und familiären Verpflichtungen der Bandmitglieder oft nicht in Einklang zu bringen ist. Doch das Leben der Leipziger Truppe ist ein stetes Ab- und Zunehmen. Begannen die „Dunklen Sonnen“ zunächst als Quintett, schrumpfte die Band vor wenigen Jahren auf einen Rumpf von drei Leuten zusammen, auf Gitarrist Maik und Drummer Niko Knappe sowie Gitarrist Torsten Wenzel. Bereits ihr Erstlingswerk „Swanlike“ zeigte die Brillanz, die die Fünf aus Sachsen-Anhalt zeigten und ihren Doom Metal in die Nähe von Haudegen wie „Pain Of Salvation“, „Opeth“ und „Riverside“ rückte. Erst mit dem von etlichen Besetzungswechseln geplagten Drittling „Grave Human Genuine“ emanzipierten sich die inzwischen nach Leipzig gezogenen Leipziger von ihren Vorbildern. 2011 ließen sie mit „Orange“ endgültig los und veröffentlichten, nunmehr zu einem Oktett angewachsen, einen Achtungserfolg, der weltweit überzeugte. „Wir haben viel erreicht“, blickt Torsten Wenzel zurück. „Vor allem unser jüngstes Album ‚Orange‘ ist bei den Kritikern wahnsinnig gut angekommen, was uns zu den Arbeiten zu unserem fünften Album anspornte.“
Der Gitarrist mit der Vorliebe für „Led Zeppelin“ offeriert für 2015 ein neues Studiowerk. „Das Songwriting dazu ist bereits abgeschlossen“, sagt er und fügt hinzu: „Noch im Frühjahr geht es an die Aufnahmen. Wir sind sehr stolz auf die entstanden zehn Songs. Wir hatten erst kürzlich den ersten Höreindruck in einer angemessenen Reihenfolge, sind immer noch baff und tief bewegt wie die Voraufnahmen uns erfassten.“
Dark Suns wäre aber nicht Dark Suns, wenn die Band nicht schon bei ihrem Auftritt im UT Connewitz bereits einen kleinen Ausblick auf die noch unbetitelte Scheibe geben würde. „Wir werden zwei Songs von der kommenden Platte spielen“, freut sich der Klampfer. Zwei Stunden wird die achtköpfige Gruppe ihre pittoreske Reise durch ihr Universum unternehmen. Für die Gastgeber von „Dark Suns“ wird Kris Kelvin aus Berlin der wahre Weltraumspaziergänger zwischen LSD-Trip und Überflugpanorama sein.

10.01.2015
UT Connewitz / Leipzig / 20Uhr
12 EUR / 10 EUR ermäßigt

Dark Suns Offiziell
Kris Kelvin Offiziell

UT Connewitz

Neue Slowenische Kunst – Leipzig wird von einem virtuellen Staat temporär besetzt

Der Einmarsch beginnt im März. Die slowenische Avantgarde-Gruppe Laibach, zuletzt als Filmmusikkomponisten für die finnische SF-Satire „Iron Sky“ in Erscheinung getreten, veröffentlicht Anfang März ihr neuestes Album „Spectre“ und ist auf einer ausgedehnten Tournee unterwegs, um die neuen Stücke live zu präsentieren. Parallel dazu erscheint beim Mainzer Ventil-Verlag Alexei Monroes Standardwerk über Laibach und die von ihnen mitbegründete Künstlerbewegung NSK erstmals auf deutsch in einer gegenüber der englischen Originalausgabe von 2005 aktualisierten und erweiterten Auflage. In Leipzig blüht die erste NSK-Biennale. (Von Alexander Nym)

 

Die Vorhut: Laibach-Kunst

Von Sloweniens Unterdrückungsversuchen von offizieller Seite ausgesetzt, orientierte Laibach sich international und avancierte mit ihrer pompös aufgeladenen, kryptischen Mixtur aus totalitär anmutender Bildsprache, Kitsch und moderner Kunst wie auch mit ihren überaffirmativen Bearbeitungen banaler Rock- und Pop-Klassiker zum internationalen Phänomen: Pop meets Politik – Laibach demonstrierte mit eindrucksvoller Brachialität die unterschwelligen Verwandtschaften zwischen westlicher Unterhaltungskultur und faschistischer Mobilmachung. Durch ihre unbequeme Haltung gerieten die Köpfe von Laibach, die Popmusik als für Schafe und sich selbst als solche im Wolfspelz bezeichneten, nicht selten als Vermittler unbequemer Wahrheiten ins Kreuzfeuer der Kritik, riefen sogar Proteste hervor – wie etwa durch ihre Untermalung von Wilfried Minks‘ Inszenierung von Macbeth am Hamburger Schauspielhaus 1988, oder bei der Eröffnungszeremonie des europäischen Kulturmonats in Ljubljana 1997.

NSK-Logo für Leipzig (Copyright: NSK Lipsk)
NSK-Logo für Leipzig (Copyright: NSK Lipsk)

Nach der Sezession Sloweniens und der staatlichen Unabhängigkeit vom „Mutterschiff“ Jugoslawien überführte die Neue Slowenische Kunst ihre Bewegung in den virtuellen NSK-Staat in der Zeit: Ein Projekt, das die Idee des Staates als utopischen Ort der künstlerischen Auseinandersetzung vereinnahmt, um den real existierende Staaten, allen voran Slowenien selbst, zu warnen, welche Wirkungsdimensionen Ideologie, Propaganda und (Über-) Identifikation haben können, aber auch, welches utopische Potenzial dem Staatsgedanken nach wie vor innewohnt – und erst recht von einer Epoche, die vom Nachlassen staatlicher Autonomie, Selbstregulierung und gesetzgeberischer Legitimation geprägt ist. Freihandelsabkommen, Lobbykratie und Heuschrecken-Kapitalismus zerstören Nationen, Kommunen und Gemeinschaften; der abstrakte internationalistische Ansatz eines alles von Zauberhand regelnden globalen Marktes ist außerstande, das Identifikationsbedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit zu regionalen Gemeinschaften aufzufangen. Dieser desolaten Vereinzelung setzt der NSK-Staat das Modell einer transnationalen Community entgegen, die ihre Legitimation nicht aus Zugehörigkeiten zu Ethnie, Religion oder Sprache schöpft, sondern aus einem gemeinsamen, aber höchst ausdifferenzierten Set kultureller Codes, Werkzeuge, Zeichensprachen und dem emphatisch-eklektischen Zugriff auf die geschichtlichen Traumata Europas und der Welt.

 

Monroe und die Inquisitionsmaschine

Laibachs bewegte Geschichte zeichnet Monroe in seinem umfangreichen und detaillierten Buch metikulös nach und ermöglicht so einen spannenden Einblick in die Machenschaften und Mechanismen der „Laibachkunst-Maschine“, der von außergewöhnlicher Tiefenschärfe ist, ohne dabei das Mysterium im Kern von Laibach und NSK zu entweihen. Die (kunst-) geschichtliche Relevanz der Projekte… Lesen Sie weiter auf Artefakte

Unser Lied: Midnight Blue beim „foreigneten“ Konzert

Auch ohne Konzertglotzen volle Wiesen beim Foreignerkonzert (Foto: W.E. Wilcox)
Auch ohne Konzertglotzen volle Wiesen beim Foreignerkonzert (Foto: W.E. Wilcox)

Ich war überrascht, dass Foreigner wieder in Leipzig ist. Spontan machte ich mich mit Mimi zum Clara-Zetkin-Park auf. In Leipzig ist es schon Tradition, dass vor der Bühne außerhalb des Auditoriums der Parkbühne sich die Leipziger gemütlich machen. Perfektes Grillwetter war auch. Bis ein Gewitter alle heimsuchte. (Von W. E. Wilcox)

„Protaitor?“, schallte die Stimme einer guten Freundin in meinem Ohr. Wir telefonierten. Ich erzählte ihr, dass Mimi und ich uns auf die Wiese vor die Parkbühne legen werden, um zwei Stunden Classic Rock vom Feinsten zu genießen. „Ist das ein Trickfilm?“, fragte die gute Freundin. Nennen wir sie mal Selma. „Nein“, antwortete ich, „F-o-r-e-i-g-n-e-r heißt die Truppe – weißt doch, … die Rocker mit den Pudelfrisuren aus Großbritannien und USA. Aus den Achtzigern, verstehste…?“
„Ach Foreigner!“, sagte Selma. Der Groschen ist gefallen. „Ja“, murrte ich, „Ich bin froh, dass du nicht an Retro Trull gedacht hast.“ Lachen ertönte aus dem Telefonlautsprecher. Selma macht manchmal Scherze. Ich blickte zu Mimi, die die Spielsteine für ein Rummikub-Spiel setzte. Unsere Decke hübsch auf der Wiese drapiert, umringt von Trupps aus Gleichgesinnten, die mit Kühltaschen, Grillzeug und Bier die Wiesen rund um die Parkbühne wie ein großes Biwak aussehen ließen. Kleine Lagerfeuerchen prasselten. Rauchschwaden breiteten sich zwischen den Laubkronen der Bäume aus. Noch hat das Konzert nicht begonnen. Das Parkbühnenrund schien aber gut gefüllt zu sein. Immer wieder hörten wir Pfiffe als vermutlich wieder mal ein Roadie über die Bühnenbretter schlich. Ich trank ein Bier von dem Mimi nicht so begeistert war. Pivovar Bohemus ist nicht so ganz ihr Fall. „Pils, … bitter“, habe ich noch als Wortfetzen im Ohr. Als Schwarzbierliebhaberin kann sie die bittere Plörre nicht genießen, das sogar billiger als das billigste „Sterni“ ist.

Ein Gewitter vermochte das Konzert nicht zu unterbrechen, dafür aber die Zaungäste von den Wiesen zu scheuchen (Foto: Mimi D.)
Ein Gewitter vermochte das Konzert nicht zu unterbrechen, dafür aber die Zaungäste von den Wiesen zu scheuchen (Foto: Mimi D.)

Jubel unterbrach unser Spiel. Ein Ansager kündigte Foreigner an. Die Party im Auditorium begann nach diesem heißen Tag seinen eigenen Siedepunkt zu erreichen, noch schneller als die Mittagssonne den Asphalt der Leipziger Straßen erhitzen kann. Nach einer Weile durchfuhr eine Böe die Laubkronen, der Himmel verdunkelte sich und Regen prasselte auf die Griller. Alle, die sich auf einen mückengeplagten Tagesausklang mit Rostbratwurst und Bier freuten, stoben unter die umliegenden Kastanienbäume. Blitze durchzuckten den Himmel, Donner grollte. Im Nu waren die Grillschwaden verschwunden, die Luft wurde von der Geruchsmischung aus verbranntem Fett und schwelender Holzkohle befreit. Der Himmel begann eine unwirkliche, gelbliche Farbe anzunehmen. Die untergehende Abendsonne und die herabfallenden Regentropfen malten das surreale Bild. In der Ferne lugte das Abendrot zwischen den Wolken. Eine Wolkenspitze erstrahlte weiß, als erhob sich der Mount Everest über uns. Ich sagte zu einem Metaller, der mit uns auf der Wiese stand und Bier trank, das wäre das Auge Gottes. Er knurrte lachend und streckte den Mittelfinger in Richtung des Wolkengipfels. Zur Szene schmetterte die britisch-amerikanische Rockband, die von ihrer Ursprungsbesetzung nur noch ein Gründungsmitglied in ihren Reihen hat, ihre Hits: „Cold As Ice“, „Long Long Way From Home“, „Hot Blooded“, „Double Vision“, „Blue Morning, Blue Day“, „Head Games“, „Dirty White Boy“, „Urgent“, „Jukebox Hero“, „Waiting For A Girl Like You“, „I Want To Know What Love Is“, „That Was Yesterday“, „Say You Will“ und und und.
„Unser“ Rummikub-Spiel wurde vom Platzregen arg in Mitleidenschaft gezogen. „Mein Mitbewohner reißt mir den Kopf ab, wenn er das sieht“, sagte Mimi. Ihre großen, blauen Kulleraugen bekamen kurz einen trüben Schleier. Vor ein paar Tagen lud uns ihr Mitbewohner Tom zum Rummikub-Spiel ein. Ist seins. Auf Ordnung und Sauberkeit kommt es ihm an. Nichts darf abgenutzt aussehen, mit Ausnahme des Bestecks, des Geschirrs und der Möbel. Der Karton des Spiels war nun angeweicht. Seine Kanten sahen abgestoßen aus. Oje.

"Midnight Blue" an der Parkbühne (Foto: W.E. Wilcox)
„Midnight Blue“ an der Parkbühne (Foto: W.E. Wilcox)

Wir saßen unter einer Kastanie und beobachteten wie unsere Nachbarn unterm Baum weiter grillten. Unsere Haut wurde feuchter. Mimi hat meinen Rucksack genäht, sah ich jetzt. Sie fotografierte mit meinem Mobilphon Himmelserscheinungen. Ich trank ein weiteres Bier und schwadronierte über Foreigner. Dass Mick Jones das einzige Gründungsmitglied ist, das noch in der Band ist. Der neue Sänger klingt wie Lou Gramm. „Irgendwie fehlt bei den Songs die Power“, meinte einer der umstehenden Metaller. Später sah ich bei den Konzertfotos von dem Auftritt, dass Mick Jones nicht drauf ist. War er überhaupt an dem Abend da? Trotzdem waren sich alle Anwesenden einig, dass Foreigner es noch drauf haben.
Der Himmel verdunkelte sich ein weiteres Mal. Noch einmal überzog uns das Gewitter mit seinem Unbill. Dieses Mal etwas heftiger, noch mehr Wasser ergoss sich über uns. Selbst unterm Baum hatten wir keine Chance mehr. Wir packten unsere Sachen und verabschiedeten uns vom Metaller-Helheim-Grüppchen, das wir vorher im Regen antrafen. Beim Heimweg sahen wir, dass die Wiesen um die Parkbühne wie leer gefegt waren. Mimi meinte nur lachend, dass wir ein ziemlich „foreignetes“ Konzert erlebt hatten. Aber unser Lieblingslied „Midnight Blue“ hatten wir nicht vernommen. Dafür vernahmen wir das Gesumm von Mückenschwaden. Zerstochen sanken wir in den Schlaf.

Lazygrass: Gar nicht die faule Haut

Dampf unter der Haube. Das ist die beste Umschreibung für ein Trio aus Leipzig, das sich dem Rock’n’Roll verschreibt. Sänger und Gitarrist Gabor treibt seine Band seit Beginn des neuen Jahrtausends voran und hat mit Bassist Venedig und Drummer Robin ein Lebenszeichen veröffentlicht, das auf den Namen „Walking Blind“ hört. (Von Gus Eisen)

Kurz geraten ist die Langrille. Das Format: EP. Heißt eigentlich im Englischen „extended play“ und ist der verlängerte Arm einer Single. Das Format ist besonders beliebt im Independent-Bereich der Musikszene, weil einfach und kostengünstig zu produzieren. So umfasst die Spielzeit von „Walking Blind“ mit einer guten Viertelstunde das untere Maß der Dinge. Dafür formulieren die drei Leipziger auf fünf Stücken was sie bewegt. Männlichkeit, Liebe, Heldentum. Der ganze Querschnitt des Lebens eben.
Erdig klingt „Walking Blind“. Viel Bodenhaftung braucht auch Rock dieses Zuschnitts. Dass Lazygrass sich auf den Spuren des Rock’n’Rolls begibt, ist für das Trio die natürlichste Sache der Welt. Einfach rein ins Studio, die komponierten Stücke live einspielen, bloß nicht mit digitaler Technik herum fummeln und ein Ergebnis in den Händen halten, das zeitlos klingt.

So sieht "Walking Blind" aus (Copyright: Lazygrass)
So sieht „Walking Blind“ aus (Copyright: Lazygrass)

Mich erinnern die druckvollen Kompositionen wie kleinere Brüder im Geiste von Corrosion Of Conformity als die Band den Rock’n’Roll für sich entdeckt hat. Ein wenig Queens Of The Stone Age schwingt in dem Opener „Fearless Hero“ auch mit. Im Sound von Lazygrass liegt noch ein dritter Kumpel eingebettet, der sich mir nicht vorstellen will. Das braucht er auch nicht. Lazygrass ist wie ein Vertrauter, der einen schon jahrelang begleitet. Seine Geburt ebenso vertraut wie eine Wiese im Clara-Park, wo die Band ihren Entstehungsprozess vor über zehn Jahren tatsächlich eingeleitet hatte. In anderer Besetzung natürlich. Nur Gabor ist die Konstante im Leben von Lazygrass.
Während andere Rockbands sich vornehmen, zu neuen Ufern zu schwimmen, will Lazygrass schnörkellose Nummern zocken, die sowohl auf Platte als auch auf der Bühne funktionieren. Die fünf Stücke auf „Walking Blind“ machen Spaß, vor allem das Titelstück und der Opener „Fearless Hero“ lassen die Füße zappeln. Besonnener und ruhiger geht es bei „Unknown Soldier“ und „Miles“ zu. „Unkown Soldier“ dürfte wegen seiner Eingängigkeit und Abwechslung sogar das Format für einen Hit besitzen.
Unser Leipziger Trio dürfte mit dem kurzen Langspieler merklich für spitze Lauscher sorgen. Merkt man ihm an, dass die Band sich behaupten will und ein Statement hinterlässt. Eine Botschaft, dass Rock nicht ausstirbt so lange Menschen Freude empfinden, das Schlagzeug, Bass- und E-Gitarre sprechen zu lassen. „Walking Blind“ ist eine schöne Referenz an die gute alte Schule.

Band: Lazygrass
Album: Walking Blind
Spielzeit: ca. 17 Minuten
Label: Keins
Webseite: www.lazygrass.de

Unser Lied: Never Let Me Down Again

Rick wusste nicht mehr genau wann das war als er Depeche Mode zum ersten Mal vernahm. Es muss irgendwann 1982 herum gewesen sein als Michael Jackson seinen „Thriller“ sang, Bob Marley sich längst in den letzten Zügen seines Schaffens befand und Kate Bush verstärkt von sich hören ließ. Zwischen all dem der fröhliche Schlager „Just Can’t Get Enough“.

Erst fünfzehn Jahre später beschäftigte er sich mit der Truppe näher. „Speak And Spell“ – so so. 1997 war das Jahr als er sich „Ultra“ zulegte. Die erste DM-Scheibe überhaupt, die er sich kaufte. Warum er das als Metalfan tat, weiß er nicht. Muss an dem stimmungsvollen Sound der Scheibe gelegen haben. Er mochte die Dunkelheit der Songs, ihre Verlorenheit, die irgendwie auch zu der Entwicklung passte, welche einige im Metal verwurzelte Bands zu dem Zeitpunkt einschlugen. Tiamat zum Beispiel. Eine Gruppe, die aus dem finsteren Death Metal stammt, aber 1997 plötzlich mit einem Genre sprengenden Album einen Anker in Richtung Dead Can Dance, Cocteau Twins und Elektro warf. Oder The Gathering, jene Holländer, die mit einem wuchtigen Rockalbum von sich reden machten, anstatt weiterhin den dunklen Lavaklängen zu frönen. Daran erinnerte Rick sich als er mit Mike am Hain des Sportforums auf der Leipziger Festwiese saß und über „Depeche Mode“ plauderte. Nicht ohne Grund. Das in den späten Siebzigern gegründete Projekt gibt es immer noch, hat trotz Ausstiegs von Alan Wilder weiter gemacht und unlängst ein neues Album veröffentlicht. Am 11. Juni gastierte die Truppe in der Leipziger Arena. Beide Freunde waren nicht die einzigen Zaungäste. Depeche Modes Anwesenheit war aber nicht Thema in dem kleinen Dialog, das Rick und Mike führten. Sie waren sich einig, dass „Delta Machine“ nicht das beste ist.
„Lieber die Klassiker“, meinte Mike, „bei ‚Ultra‘ gehe ich noch mit, aber das alles, was danach kam, ist nicht so meins…“
Während er das sagte, erschallte eine neue Stadionhymne der Briten. Rätselraten an der Schüssel. Rick meinte, im Clarapark würde der Sound besser klingen als direkt vorm Stadion. Dann hätte er natürlich sofort erkannt, dass jetzt „Personal Jesus“ ertönt. Ihn irritierte der umgeschriebene Anfang des Stücks, das knarzend-bluesig in die Ohren der 45.000 Besucher brummte, bevor dann doch der klassische Tritt in den sprichwörtlichen Hinterteil unter einem lauten Aufschrei aus 45.000 Kehlen erfolgte.
„Ja“, meinte Mike, „das machen sie immer wieder. Gerade bei diesem Stück experimentieren sie gern.“ Rick beendete das Leben einer Mücke auf seinem Arm. Er erinnerte sich, dass er Depeche Mode eigentlich hasste. „Was waren das für Schnösel in weißen Hosen, schwarzen Lederjacken und den komischen Frisuren“, dachte er noch und erzählte Vince von seinen Eindrücken, die er von Depeche Mode hatte. Dass Ricks Schwester mit einer Haarbürste vorm Spiegel stand, den Hüftschwung von Dave Gahan übte und schiefe Töne aus ihrer Kehle hervor quellen ließ. Um ihren Eifer zu befriedigen, versuchte sie Englisch zu lernen. Sie wolle die Texte verstehen und übersetzte selbst Redewendungen Eins zu Eins. Das führte dazu, dass sie den Sinn der Texte nicht verstand. Auch dass sie den Englischunterricht in der Schule aufsuchte, der in der DDR fakultativ war und immer nachmittags nach offiziellem Schulschluss stattfand. Offenbar war der Lehrer so schlecht, dass sie immer Vieren und Fünfen nach Hause brachte.
„Oje“, sagte Mike lachend während er eine kleine Büchse Jack-Daniel’s-Cola zum Mund führte, „da habe ich was geöffnet.“ –
„Ach ne, „entgegnete Rick, „ist alles schon überwunden. Später habe ich mich selbst mit der Musik beschäftigt. Aber wenn ‚Mode‘ einen Klassiker spielt, kommt das Bild zurück. Auch das, als wir ihre Videoclips bei der Sendung ‚Formel Eins‘ schauten. Da bekomme ich Beklemmung, weil ich meine Zeit hätte besser nutzen können.“ –
„Ist doch für dich heute gar nicht mehr so wichtig“, sagte Mike. „Denk doch mal an das Hier und Jetzt. Ich weiß, ich sollte mich nicht so aus dem Fenster lehnen, weil ich mich selbst irgendwie in die Vergangenheit sehne, sehen möchte wie Leipzig vor 500 Jahren ausgesehen haben mag, wie die grüne Wiese am Thomaskirchhof… Hat die damals auch schon so ausgesehen, oder was war da genau…“ –
Rick blinzelte zu Mike. „Warum schreibst du kein Buch über deine Gedankenausflüge?“ –
„Oar“, machte er, „könnt’sch mach’n. Aber was soll das groß bringen? Will doch keiner lesen.“
„Ich schon“, sagte Rick.
„Personal Jesus“ stampfte immer noch seinen Viervierteltakt über Leipzig. Mike fand den Gedanken nicht so schlecht, etwas über seine Gedankengänge zu schreiben. Schreibt er gern ausführlich. Aber als Schriftsteller sieht er sich nicht. Eher als Bildner. So war er es, der nach den Ausführungen Ricks über einen afrikanischen Mann, der im Hain der Festwiese mit einer Plastiktüte in der von dicken Goldringen geschmückte Hand stand während seine andere goldberingte Hand eine Bierflasche umgriff und sie zu seinem Mund führte, dann einen Seufzer ausstieß als er seinen Blick über die Anlage schweifen ließ, sagte, welches herrliches Bild die von Rick beschriebene Situation ergab.
„Ja,“, meinte Rick, „sah schon super aus. Zumal er in herrlichsten Stoff gehüllt war. Das nachtblaue Jacket, die auf Bügelfalte gelegten Hosen, die Goldketten um seinen Hals. Sicher war das ein Prinz wie sie schon seit der Wende oft nach Leipzig kommen, um hier zu studieren.“ –
„Na, wie Studium hat das sicher nicht ausgesehen“, frotzelte Mike. Rick lächelte und sagte: „Bestimmt nicht. Aber er fühlte sich wohl. Umso verwunderlicher, dass Leipzig die Festwiese als Parkplatz nutzen lässt, anstatt ein unterirdisches Parkhaus anzulegen, die Wiese wieder herstellt und den Ort wieder für Sport- und Familienfeste nutzbar macht.“ –
„Keine Ahnung“, sagte Mike. Er konzentrierte sich auf seine Jackie-Cola. Für Stadtplanung interessiert er sich nicht. Sein Blick schweifte über die von Autos bestandene Festwiese. Dann schweifte das Gespräch über die Kinder von Depeche Mode ab, die neben der deutschen Formation Kraftwerk mit ihrer Instrumentalarbeit Generationen von Elektro-Musikern beeinflusste. „Weißt du“, sagte Mike, „eigentlich ist die neue DM-Scheibe instrumentaltechnisch gesehen super interessant. Ein wenig abgespeckter nur, Gesang weg und ‚Delta Machine‘ wäre eine super Minimal-Elektro-Platte. Mit ‚Playing The Angel‘, ‚Sounds Of The Universe‘ und ‚Exciter‘ hatte ich auch so meine Probleme.“ –
„Dann höre dir mal das an, was Martin Gore mit Vince Clark 2012 mit dem Minimal-Techno-Projekt VCMG auf „Ssss“ anstellte. Könnte nicht verkehrt sein“, entgegnete Rick.
Mike: „Nun ja, Depeche Mode wollte soundtechnisch auch mehr ‚Back To The Roots‘, wenn ich mir den Produzentensessel anschaue. So ‚Violator‘, oder ‚Songs Of Faith And Devotion‘.“
Rick: „Apropos ‚SOFAD‘. Ich hab die ‚Devotional-DVD zuhause, die ich gern mal anschaue.“
Mike: „Wahnsinn. Anton Corbjin hat mit der Tour den absoluten Zenit seines Schaffens erreicht. Das kann von ihm heute nicht mehr behaupten.“
Rick: „Dave Gahan sang auch schon besser.“
Mike: „Ich war auf einen Konzert vor einigen Jahren, das muss der Tourauftakt in Leipzig gewesen sein. Leipzig lieben die Depeche Modler ohnehin sehr, weil die während der ‚Devotional‘-Tour hier in der Distillery in der Braustraße mit ihren Limousinen auftauchten und die rund 50 bis 100 Clubgäste überraschten. Musst du dir mal vorstellen. Vier Typen in Lederjacken und Sonnenbrillen in einem Club, von dessen Wänden das Wasser herunter lief. Um auf mein Konzerterlebnis zurück zu kommen, … damals … es muss so 2009 gewesen sein, … war Dave Gahan an Blasenkrebs erkrankt. Da klang er noch viel schlechter. Dabei wollte er sich eigentlich nicht behandeln lassen. Er hätte gut und gerne über die Klinge springen können.“ –
„Er hat sich gebessert“, warf Rick ein. „Dass er zu sich selbst findet, Yoga macht, joggt und Familienmensch ist, hat er in einem Interview erzählt.“ –
„Yeah“, machte Mike, „eigentlich ’ne gute Sache. Ich muss sagen, dass live die neue Scheibe eine gute Figur macht. Aber die Klassiker mag ich trotzdem lieber.“ –
„Welcher Song wird eigentlich jetzt gespielt?“, fragte Rick. „Klingt wie ‚Never Let Me Down Again‘.“ –
Mike lachte und sagte: „Es ist ‚Enjoy The Silence‘.“ –
„Klingt für mich immer noch wie ein und dasselbe“, antwortete Rick schnell, um der Peinlichkeit aus dem Weg zu gehen. Beide warteten bis auch die Zugabe verging. Erste Zuschauerströme verließen schon das Stadion. Irgendwann kam die Band zurück. Beide Zaunsgäste konnten hören wie die Massen aufschrien vor Freude. Dann ertönte „Just Can’t Get Enough“. Noch ein Aufschrei.
„Cool“, sagte Vince während tausende Menschen im Takt des Stücks mitklatschten und den Refrain mitsangen, „dass die das noch spiel’n. Ist ja schon alt wie der Wald. … Oh, … schon vorbei. He he.“
Mike und Rick hockten im Dunkeln und beobachteten eine Weile wie der Besucherstrom wie eine durch einen begradigten Fluss aus dem Stadion zur Jahnallee quoll. Rick dachte noch an den Bierstand, wo 0,4 Liter genau vier Euro plus ein Euro Becherpfand kostete. „Die Tankstelle wird sicher jetzt geplündert“, sagte er zu Mike. „Aber weißt du woran mich der Strom noch erinnert als an eine Flut? In diesem orangefarbenen Gaslampenschein und aus dieser Entfernung könnte man sich an die Wende ’89 erinnern als mindestens genauso viele Menschen auf dem Leipziger Ring Freiheit, Demokratie und Menschenrechte skandierten. Jetzt latschen sie Bier holen, oder zu ihrem Auto.“ –
„Joar“, sagte Mike, „jetzt haben sie alles das, was sie wollten. Ob jemand sich bei all den Gesellschaftszwängen frei fühlt, muss jeder für sich selbst entscheiden.“ –
„Wie wahr“, sagte Rick und klopfte sich die Erde und die Feuchtigkeit aus der Hose. Dann reihten sich beide mit ihren Fahrrädern in die durch die Marschnerstraße herab wälzenden Menschenmassen ein, in der Hoffnung, dass doch noch jemand dasselbe Gefühl hatte wie sie. Stattdessen torkelten einige Betrunkene vor ihnen herum und hielten den Strom auf. Beide Freunde schauten sich an und sagten: „Never Let Me Down Again“.

Wagners langer Schatten – Stephan Balkenhols Skulptur in Leipzig

Von Daniel Thalheim

Zuerst war ich interessiert, neugierig und dann entflammt. Nachdem ich 2011 hörte, dass Stephan Balkenhol die Wagnerskulptur auf den Max-Klinger-Sockel stellen wollte, war ich skeptisch. Passt Gegenwartskunst auf einen vor hundert Jahren behauenen Stein, der ein paar Jahrzehnte im Clara-Zetkin-Park vor sich hingammelte? Nachdem ich nach der Enthüllung des Denkmals auf das Gesamtkunstwerk schaute, war ich überzeugt: es passt!

Von Klinger zu Balkenhol

Da kannte ich aber noch nicht Balkenhols Intention. Doch zurück in die Geschichte geblickt. Im Juni 2011 entschied in Leipzig eine Jury darüber, dass der 1957 in Fritzlar geborene Künstler Stephan Balkenhol das Wagnerdenkmal gestalten darf, welches schon von dem Leipziger Künstler Max Klinger (1857-1920) zur Vollendung geplant war. Schaffte er aber nicht. Nur der Marmorsockel, an dem sich nicht nur Kunstgeschichtsstudenten wegen seiner Ikonographie die Zähne ausbeißen, wurde von ihm fertig gestellt und landete im Clara-Zetkin-Park auf einer Wiese nahe dem Palmengarten in der Nähe des Richard-Wagner-Hains. Dort bekam der behauene Block die Patina, die erst Mythen entstehen lässt. Kein Mythos ist die Wagner-Büste am Schwanenteich hinter der Leipziger Oper. Es zeigt das Porträt des Komponisten, das auf einen Entwurf von Klinger zurückgeht. 1904 stellte er eine aus Marmor geschaffene Büste her, die 1904 bei der Weltausstellung in St. Louis gezeigt wurde. Der Originalgips befindet sich mit zwei Abgüssen im Klinger-Nachlass im Leipziger Museum der bildenden Künste. Einer der beiden Abgüsse war bereits für einen Bronzeguss präpariert. Ein Umstand, der zum Anlass genommen wurde knapp 80 Jahre nach seiner Herstellung, eine Büste herstellen zu lassen. Sie wurde von dem Leipziger Bronzegießereibetrieb „Bronze Noack“ 1982 hergestellt und auf einem Sandsteinsockel montiert 1983 enthüllt. Da stecken hundert Prozent Wagner drin.
Brauchte es nun einen zweiten Wagner? Die Geschichte reicht weiter zurück als wir denken. Max Klinger setzte sich zu Lebzeiten für ein monumentales Wagnerdenkmal ein wie er es auch für das Wiener Secessionsgebäude mit der Beethovenskulptur verwirklichte. Die Nationalsozialisten bemühten sich umsonst, am eigens für ihre hochfliegenden Pläne geschaffenen Richard-Wagner-Hain am Elsterkanal-Ufer ein Wagner-Monument zu errichten. Im Sozialismus war Wagner zunächst umstritten, wurde dann rehabilitiert. Aber nur im Hinterhof der Leipziger Oper bekam er seinen Platz. So offen wollte man den von den Nationalsozialisten verehrten, von Israelis verhassten und Musikgeschmäcker spaltenden Leipziger doch nicht zeigen. War er selbst auch bekennender Antisemit.
2011 stand fest, das Monument kommt – nur weniger monumental als vielleicht ursprünglich gedacht. Schon damals stellte Balkenhol seinen Entwurf vor, wo Wagner als junger Mann in Lebensgröße dargestellt wird, sich hinter ihm aber ein langer schwarzer Schatten des alten Wagners aufbaut. 2013 wurde der Entwurf genauso enthüllt – pünktlich zum Geburtstag des Komponisten am 22. Mai. Wir blicken auf eine bunt angemalte Bronzeskulptur, hinter ihr der vier Meter hohe Bronzeschatten. Unter ihm der Klingersche Marmorsockel.

Stellt sich Balkenhols Bronze der politischen Diskussion um Wagner? (Copyright: Daniel Thalheim)
Stellt sich Balkenhols Bronze der politischen Diskussion um Wagner? (Copyright: Daniel Thalheim)

Nur ein bunter Farbklecks am Ring?

Was will der Künstler uns damit sagen? Gegenüber Deutschlandradio sagte Balkenhol am 21. Mai 2013, dass er mit seiner Bronzeplastik das Visionäre in Wagners Werk zeigen wollte, will aber zugleich seine Plastik auch als Paraphrase auf den damaligen Entwurf von Max Klinger verstanden wissen. So ähnlich hätte auch Max Klinger seine Idee verwirklicht. Balkenhol will nicht, dass Wagners antisemitische Weltanschauung deutlich wird. Er will den Schatten tatsächlich so sehen, der Wagner als Mensch und Visionär zeigt.
Warum nicht? Muss der interpretatorische Rahmen nicht dem Betrachter überlassen werden? Oder den Scharen an Kunsthistorikern, die sich an dem Kunstwerk ergötzen werden?
Balkenhols Werk hätte ein gesellschaftskritisches Denkmal sein können, das sich mit aktuellen Diskussionen um Wagners Schatten beschäftigt. Wagner der Antisemit, Wagner der Frauenhasser, Wagner der Veganer. Von Theodor W. Adorno bis Friedrich Nietzsche, von Franz Liszt bis Thomas Mann, von Johannes Brahms bis Tschaikowski gab es genügend kritisches zu Wagners Musik und seiner Persönlichkeit anzumerken.
Nietzsche verehrte zunächst Wagner als Neuerer der Kunst. Sein Verhältnis zum Komponisten änderte sich schnell als er sagte: „Denn der Parsifal ist ein Werk der Tücke, der Rachsucht, der heimlichen Giftmischerei gegen die Voraussetzungen des Lebens, ein schlechtes Werk. – Die Predigt der Keuschheit bleibt eine Aufreizung zur Widernatur: Ich verachte jedermann, der den Parsifal nicht als Attentat auf die Sinnlichkeit empfindet.“
Spannungsreich auch das Verhältnis des ungarischen Komponisten Franz Liszt zu Richard Wagner. Zuletzt sah Liszt in Wagners Werk doch etwas „Übermenschliches“.
Der Schriftsteller Thomas Mann konnte sich dem „Rauschhaften“ in Wagners Musik ebenso wenig entziehen, setzte sich aber kritisch mit dessen Persönlichkeit auseinander, die er untrennbar mit dessen Werk verflochten sah.
Tiefenpsychologe Josef Rattner sah in Wagners Antisemitismus einen verquasten Minderwertigkeitskomplex und auch als Kalkül, sich einer gewissen „Aristokratie“ zugehörig fühlen zu müssen. Dabei ließ Wagner sich von jüdischen Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy musikalisch inspirieren. Ein Widerspruch.
Im Hinblick auf Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, das im Juni 2013 in Leipzig aufgeführt wird, darf ein anderer Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Wenn der österreichische Künstler Hermann Nitsch schon Tiere für seine Dionysien schlachten und ausweiden lässt, darf auch ein anderer antisemitischer Blick Wagners nicht vergessen werden. Für Wagner war Vegetariertum nicht nur eine Frage des Tierschutzes, sondern auch Ausdruck einer Moral. So wird es zumindest in dem Artikel „Understanding Nazi Animal Protection and the Holocaust“ erklärt. Schächtung und Vivisektion seien so laut Wagner „Ausdruck einer Jüdischen Medizin“.
Dahingehend macht Hermann Nitsch nichts falsch, kehrt Wagners Moralvorstellungen in seinem Mysterientheater geradezu um.
Wagners Schatten kann auch historisch interpretiert werden. Wie und von wem wurde seine Musik benutzt, ausgeschlachtet und missbraucht? Nationalsozialismus auch nach 70 Jahren seines Falls immer noch ein Thema in der Diskussion um Richard Wagners Werk. Nicht zuletzt durch die Nähe von Winifred Wagner zu den Nationalsozialisten und vor allem ihren Apologeten wie Adolf Hitler.
Es gibt auch andere Tendenzen. Daniel Barenboims Aufführung des „Tristan“-Vorspiels in Israel sorgte für eine Kontroverse, die aber laut einem Spiegel-Interview mit dem Dirigenten klein ausfiel. Er sagte, dass Wagners Musik nicht ideologisch ist, aber Wagner durchaus Antisemit war, seine Musik jedoch nicht. Wagner könne nichts für die Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten.

Diskutiert nur mit Wagners Musik und Klingers Farbästhetik der Antike - Balkenhols Bronze am Goerdelerring (Copyright: Daniel Thalheim)
Diskutiert nur mit Wagners Musik und Klingers Farbästhetik der Antike – Balkenhols Bronze am Goerdelerring (Copyright: Daniel Thalheim)

Das Verhältnis der Israelis zu Wagner ist entspannt, meinte auch Dr. Thomas Feist (MdB, CDU) am 23. Mai 2013 bei der durch die Leipziger Initiative „Leipzig macht Musik“ im Werk II durchgeführten Diskussionsrunde. Auch Journalist Peter Korfmacher (LVZ) sieht Wagner in einem ruhigen Licht. Dennoch könne man Wagner nicht von seinen politischen Äußerungen trennen. Der Mensch Wagner bleibt auch so untrennbar mit seinem Werk verbunden. Denn welches Vorbild gibt ein Komponist für die Kinder ab, wenn seine politischen Ansichten unvereinbar mit dem Grundgesetz sind, fragen beide. Wagner ist aktuell wie eh und je, wenn auch so mancher Lehrer seinen Schülern nur die halbe Wahrheit nahebringt.
Von dieser Debatte scheint Balkenhols Denkmal sich merkwürdigerweise nicht zu entziehen, wenn der Künstler auch gegenzusteuern versucht. Eigentlich enttäuschend, dass ein Gegenwartskünstler zu aktuellen Diskussionen keine Stellung bezieht. Während Künstler wie Jörg Immendorf, A. R. Penck, Gerhard Richter und Sigmar Polke stets ihr Werk im gesellschaftlichen Kontext sahen, scheint Balkenhols Arbeit lediglich auf dem Sockel der Ästhetik zu verharren. Ein Symptom unserer Zeit? Denn ohne die Diskussion bleibt Balkenhols Arbeit auf dem Klingersockel nur ein bunter Klecks am Goerdelerring.

Der Wagner-Denkmalsblog

Couchgeschichten: Und ewig ruft der Trickster

Mount Fuji durch eine 5-MP-Mobilphon-Kamera gelinst (Copyright: Daniel Thalheim)
Mount Fuji durch eine 5-MP-Mobilphon-Kamera gelinst (Copyright: Daniel Thalheim)

Wilcox hat sich wieder was vorgenommen. Kunstrundgang mit Vollbedienung, dann Abmarsch zum benachbarten Bandhaus hinter dem Gelände der Alten Baumwollspinnerei. „Was muss das muss“, denkt er als er mit seinem Rad in die Saarländer Straße einbiegt. Vor ihm der staubige Parkplatz vorm Bandhaus.

Als er an das Proberaumhaus heranrollt, erinnert Wilcox sich, dass er beim Georg-Schwarz-Straßen-Fest den Gitarristen von Mount Fuji traf. Gemeinsam mit seiner Freundin, die er noch vom gemeinsamen Studium der Kunstgeschichte und Arbeit im Bibliographischen Institut kennt. Lange Zeit ist es her. Fast zu lange her. Seine Gedanken drehen sich um Verlust und Gewinn, Abschied und Willkommen. Wie gern würde er noch als Kunsthistoriker arbeiten, hat er noch ein ein dickes Fundament für seine Dissertation aufgebaut. Beinahe vergessen. Wie konnte das nur geschehen?
„Hey“, ruft jemand, „bist ja auch hier!“ Wilcox erkennt den Bartender aus der Helheimkneipe, der heute Abend im Bandhaus Dienst schiebt. Vier Bands erwarten er und die Mitarbeiter der Bandcommunity. Mount Fuji ist die einzige, die die Fahne des Doom oben hält. Apoa ist die andere, die in die atmosphärischen Gefilde des Instrumentalrock abdriftet. Die beiden dänischen Combos kennt Wilcox noch nicht. Dänen sind’s aber, die den Parkplatz erst einmal bevölkern.
Wilcox trifft auf Uwe, Manager von Arranged Chaos und heute Abend Einlasschef. Großes Hallo. Long Time No See. Ja, so ist das, wenn man selten auf Untergrund-Konzerte geht wie Wilcox. Hat er noch andere Pläne. Bereitet er soeben auch ein neues DJ-Set für die Helheimkneipe vor – Progressive Metal. Könnte er mal ein paar wunderbare alte Songs von Dream Theater, Fates Warning, Rush, Yes, Genesis und ein paar neue von Spock’s Beard und Neil Morse spielen. Aber erst einmal Markus fragen, der das Helheim leitet.
Die milden Temperaturen und die strahlende Sonne lassen die Angereisten ihr Catering draußen verspeisen. Der Bandcommunity-Smutje strahlt auch. Er freut sich, dass sein veganes Chili so gut ankommt. „Aha“, dachte Wilcox, „Hardcore Punk oder irgendwas mit Post kommt heute aus Dänemark. Was ist nur aus den Wikingern geworden…“
Der Helheim-Bartender fragt Wilcox was er mit seinem Mobiltelefon macht. „Fotografieren“, meint der Journalist und lichtet ein paar Bühnen- und Tresensituationen ab. Wofür auch immer. Weiß Wilcox doch, dass sein Smartphone mit der beschissenen 5-Megapixel-Kamera ihn im Stich lässt wenn er in Innenräumen versucht, Fotos zu machen. Hätte er doch, … tja … hätte.
„Vielleicht mache ich mir noch ein paar Notizen“, murrt er nachdenklich.
Bartender: „Ich frage nur…“
Wilcox: „Kein Ding…“
Veranstalter, der dazu stößt: „Ich nehme an, du willst auf die Gayliste.“
Wilcox nickt und sagt: „Klar doch. Eurer Schaden wird’s nicht sein.“
In dem Augenblick rauscht Tine hinein, die heute an der Bar aushilft. Erkältet ist sie, und müde, weil sie am Vorabend im Helheim stationiert war. Wilcox erinnert sich wieder. „Verdammt! Ist gerade mal zwölf Stunden her und versucht die Gedanken loszuwerden als er mit einem Künstler durch die Kneipe torkelte. Davor sah er zu wie eine Braut im Kleid zu Black Sabbath’s „Into The Void“ tanzte und merkwürdige Rituale am Boden vollführte und mit dem Künstler und Wilcox ihre Pommes Frites teilte. Wenigstens war das Gehämmer, das sonst als Geräuschkulisse im Helheim dient, für zehn Minuten unterbrochen worden. Daran erinnert sich noch ein anderer Mensch, der später ins Bandhaus einkehrt.

Doom Rock aus Leipzig - Mount Fuji (Copyright: Daniel Thalheim)
Doom Rock aus Leipzig – Mount Fuji (Copyright: Daniel Thalheim)

Zunächst einmal entwickelt sich ein Gespräch zwischen Tine und Wilcox über die Rolle des Harlekins in der mythologischen und theatralischen Welt. Tine schreibt über diese Figur eine Hausarbeit. Dazu gehört auch, woher das Wort „Harlekin“ stammt. Die Tresenfrau beschreibt, dass im Italienischen der Arlecchino in etwa einem kleinen Teufel entspricht, der eine ambivalente Rolle in der Commedia dell’arte der Renaissance einnimmt. Inzwischen summt Apoa sein beruhigendes Lied. Die drei Dresdner lassen die wenigen Besucher in andere Welten träumen. Mit „Ef“ und „4Lyn“ aufgetreten, kommt Wilcox der Gedanke während Tine weiter davon erzählt, dass der Harlekin ein ganz schön garstiger Typ sein kann.
Die Entstehungslegende will es, dass der Harlekin seinen Ursprung in der germanischen Mythologie im Odinsgefolge als Riesenfigur hat woher auch Johann Wolfgang Goethe seinen Nebelstreif im „Erlkönig“ entlehnt haben soll. Daraus erwuchs später die Dämonenfratze, wie sie auf Karnevalfeiern zu sehen ist. Forscher nehmen an, dass der Harlekin als Possenreißer gemeinsame Wurzeln mit den Dämenonfratzen zum Karneval hat. Die Teufelsmaske mit Mantel tauchte erstmals im 13. Jahrhundert auf, erzählt Tine mit leuchtenden Augen, auch in Dantes „Göttlicher Komödie“ hat der noch teuflische Züge tragende Harlekin seinen literarischen Niederschlag gefunden.
„Vielleicht ist auch Goethes Mephisto auch so ein mittelalterlicher Schurke“, denkt Wilcox während er aus den Augenwinkeln beobachtet, dass Mount Fuji ihr Equipment zur Bühne trägt. „Der Berg kommt eben zum Propheten“, blinzelt der Gedanke in Wilcox‘ Synapsen.
Tine erzählt weiter. Davon dass ein Emmanuel LeRoy Ladurie etwas über Harlekine schrieb, erinnert Wilcox sich noch vage. Der Name ist ihm bekannt. Er wirft den Buchtitel „Karneval in Romans. Sonderausgabe. Von Lichtmeß bis Aschermittwoch 1579 – 1580“ ein, und dass in dem Buch der Karneval als umstürzlerische Veranstaltung genutzt wurde um in der französischen Stadt ein hugenottisches System zu etablieren. Gelang am Ende nicht. In dem Zweiteiler „Moliere“ fließen die im Buch beschriebenen Bilder eines wahrhaft dämonischen Karnevalumzuges ein als auch noch Steuereintreiber in die Stadt einkehrten, denen die Narren üble Streiche wie Teeren und Federn spielten.
„Mount Fuji ist aber bassig heute“, meint ein Gast, „boar, ist das laut.“ Einige Gäste treibt es ins Freie, wo die milde Frühlingsluft für anregende Gespräche sorgt.
Tine geht es um den Theateraspekt der Harlekinfigur. Eigentlich ist die Arbeit fast fertig, aber irgendwie doch nicht. Wilcox ermutigt sie, weiterzumachen. Nicht das Studium auf den Sandhaufen der Geschichte werfen. Mount Fuji brummt noch. Die letzten Klänge erlöschen. Die 41 zahlenden Gäste sind wahrscheinlich wegen den Dänen gekommen. Kaum als Tine und Wilcox ihr Expertengespräch über den Harlekin und Karneval beendet hatten, pusten auch die ersten Klänge von The Kandidate durch die Boxen.
„Heftig, heftig“, meint Wilcox, dem gerade mehr nach den hauchzarten Kompositionen von Fates Warning ist als nach dem Knüppel aus dem Sack, der im Viervierteltakt  den Staub aus seinem Gehirn klopft. „Give up all hope“, „Death“, „All fucked up“ und „All shut up“ heißen die wenig hoffnungsschwangeren Titel der Band, die ohne Unterlass versucht, für Bewegung bei den Anwesenden zu sorgen. Steht der Sänger tatsächlich inmitten der Gäste und hüpft wie ein Jungbulle im Mai umher als würde er mit den Schmetterlingen Hasch-Mich-Ich-Bin-Der-Frühling spielen?

Mit Bass geht alles - Dänische Sludge-Combos walzen alles platt  (Copyright: Daniel Thalheim)
Mit Bass geht alles – Dänische Sludge-Combos walzen alles platt (Copyright: Daniel Thalheim)

„Ein ganz schön massiger Jungbulle“, denkt Wilcox während er die Szenerie beobachtet, „dass niemand verletzt wird ist nur der Umsichtigkeit des Sängers zu verdanken, oder ist es der Überlebenswille der Gäste, die seinen Hüpfern ausweichen? Aber freundliche Typen. Wenn sie schon kein Fleisch essen, dann rempeln sie auch nicht. Eine sehr herzliche Show. Eine dicke Spur von Sludge zieht sich durch ihre Kompositionen, geben aber verdammt noch mal Gas. Nicht übel…, davon kann mehr auf Leipzigs Bühnen kommen.“
Jetzt muss der durstige Reporter anschreiben lassen. „Eigentlich wollte ich ja nicht so lange bleiben…“, sagt er noch beschämt. Schulden hasst er wie die Pest. Aber vor Freitag kommender Woche wird das mit dem Begleichen nichts. Der Bartender reagiert nachsichtig. „Kannst ja nachher im Helheim alles begleichen.“ –
„Gute Idee“, entgegnet Wilcox, „ihr habt eine Sparkasse gleich um die Ecke.“
Das nächste Bier fließt. Rising spielt auf. Noch härter, noch druckvoller als The Kandidate. „Woher nehmen diese Jungspunde nur die Energie“, fragt Wilcox sich als er die Band von der Tür aus verfolgt. Irgendwie ist ihm das zu hart. Irgendwas balladeskes, rock’n’rolliges wäre ihm jetzt lieb. Die atonalen Gefilde von Rising bieten nicht nur ihm Songs wie „Sea Of Basalt“ an. Irgendwo zwischen ganz alte Mastodon und noch ältere Neurosis angesiedelt als diese noch nicht das Geheimnis der Langsamkeit erkannt hatten, und natürlich irgendwo zwischen Kruger, Bison B.C. und High On Fire eingeordnet. Die Schubladen funktionieren bei Wilcox noch.
„Leute, ich mach los“, verkündet er, „dass ich noch Geld holen kann.“ Wenig später stand er ohne einen Cent im Helheim und unterhielt sich mit den übrigen Leuten, die es vom Bandhaus in die Kneipe in der Weißenfelser Straße geschafft hatten. Es ist irgendwann zwischen zwei und drei Uhr. „Setz dich doch mal hin“, sagt jemand zu ihm, „was willst du trinken?“ –
„Ein Bier, aber…“, sagt Wilcox. Sein Satz wird unterbrochen mit einem „Ach komm‘, … anschreiben kannst du ruhig mal. Bist ja fast schon Inventar.“
„Okay“, sagt Wilcox und erinnert sich als er in der Sparkasse in der Zschocherschen Straße stand und zwei Schlafsäcke gewahr wurde. Einer von den beiden schnarchte, der andere bewegte sich und richtete sich auf und sagte: „Geht nicht, … vor dir hatten es schon ein paar andere probiert.“ Wilcox wollte es nicht glauben und versuchte alle Automaten um einen Geldschein zu erleichtern. Klappte wirklich nicht. „Sag ich doch“, raunzte der Schlafsack und fiel wieder in sich zusammen. Auch an der Merseburger Straße Fehlanzeige. Hatte die Sparkasse tatsächlich in der Nacht vom Samstag zum Sonntag die Auszahlungen gesperrt. „Das kann ja heiter werden“, schoss ihm als Gedanke durch den Kopf als er sich auf den Weg zur Helheimkneipe macht. Hatte etwa der Trickster zugeschlagen, wie der Harlekin im Englischen heißt? War  trotzdem alles halb so wild.