„Er gehört einfach hierher“ – Warum ein Wiederaufbau des Johanniskirchturms sinnvoll ist

Von Daniel Thalheim

1963 wurde ein Stück Leipziger Geschichte unwiderruflich aus dem Stadtbild gesprengt. Es handelt sich diesmal nicht um die Universitätskirche St. Pauli, sondern um den verbliebenen Rest eines Bauwerks, das ebenfalls im Mittelalter gebaut wurde und vor den Toren der damaligen Stadtgrenzen stand – die Johanniskirche. Besser gesagt sein in der Barockzeit umgebauter Turm. 

Die letzte Ruhestätte von Johann Sebastian Bach

Leipzig im Frühjahr 2016: Johannes Schulze ist Vereinsvorstand des Vereins zum Wiederaufbau des Johanniskirchturms. Er steht am Vormittag des 16. März an der Stelle, wo sich die mittelalterliche Friedhofskirche und spätere Wirkungs- und Grabstätte des Barockkomponisten und Thomaskantors Johann Sebastian Bach befand – dem heutigen Johannisplatz, direkt vor dem Grassimuseum. Heute steht an der Stelle des Turms ein Kreuz. Es soll sowohl an die Opfer des Bombenkriegs, als auch an die Sprengung des geschichtsträchtigen Bauwerks erinnern. Von Anfang an erzählt, beginnt die Story im 13. Jahrhundert als Leipzig sich noch hinter den Stadtmauern verbarg. Ursprünglich war die Johanniskirche eine Hospizkirche und der Stadt vorgelagert. Im Spätmittelalter wurde vom Landesherrn Georg dem Bärtigen dieser Ort zum Stadtfriedhof gewidmet. Die Kirchfriedhöfe in der Stadt – namentlich von St. Nikolai, St. Pauli und St. Thomas waren zum Bersten voll. Die Kirchen, so auch St. Johannis, waren zugleich Gedenkorte. Leipziger Bürger ließen sich Stellvertretergrabmale errichten – Epitaphe. Ein Inventar aus dem 17. Jahrhundert dokumentiert, wenn auch lückenhaft und ungenau, dass die Leipziger Kirchbauten in ihrem Inneren regelrecht von Bildern und Inschriftentafeln zugepflastert waren. Davon ist heute nur ein Bruchteil vorhanden. Dieser befindet sich neben der Sammlung in der Kustodie der Universität Leipzig auch im Bestand des Stadtgeschichtlichen Museums, des Museums der Bildenden Künste sowie in der Thomas- und Nikolaikirche. Das weiß auch Johannes Schulze. Er kennt auch die Umstände der Sprengung des Johanniskirchturms, für dessen Wiederaufbau er einen Verein gegründet hat. Der ehemalige Stadtplaner und Architekt war Zeuge als das Bauwerk durch Bestreben der Stadtverwaltung gesprengt wurde. Dabei hatte es in den Fünfzigerjahren noch eine Sanierung erfahren. Akten im Sächsischen Staatsarchiv geben Auskunft über das Hickhack um den Campanile, der Leipzigs einzig erhaltener Barockkirchturm war. Ein Vorgang, den auch er anschaulich und detailliert beschreibt. Der betagte Vereinsvorstand konstatiert: „Der Turm gehört einfach wieder zurück ins Stadtbild.“

Pläne für eine Wiederinstandsetzung gibt es – sind sie aber verwirklichbar?

Für den Wettbewerb zur Wiederinstandsetzung des von Bäumen umkränzten Platzes samt Turm habe es 2003 einen Stadtratsbeschluss gegeben. Unklar waren Finanzierung, Inhalt und Gestalt des Bauwerks. Daraufhin wurde der Verein zum Wiederaufbau des Johanniskirchturms ins Leben gerufen. Klar war die Wiederrichtung des Barockturms, als Replikat des gesprengten Originals. 

Bisher erreichte der Verein, dass der Platz sukzessive wieder ins Gedächtnis der Stadtbevölkerung als ehemaliger Ort eines Kirchenbaus rückte. Nicht zuletzt durch das Anbringen zweier Gedenktafeln über die einstigen Grabstätten von Christian Fürchtegott Gellert und Johann Sebastian Bach sowie die Freilegung der in den Zwanzigerjahren expressiv ausgestalteten gemeinsamen Gruft sowie der Familiengrabstätte der Bachfamilie wurde klar, dass der Ort seine Geschichte hat, und noch stärker ins Bewusstsein der Leipziger treten muss. Dafür setzen er und sein Verein sich dieser Tage wieder stärker ein. 

Der Turmwiederaufbau wird vom Direktor des Grassimuseums für Angewandte Kunst argwöhnisch beäugt. Er hält nichts von einem Wiederaufbau des Campanile. Einen kirchlichen Zweck würde er nicht innehaben, wofür also alles. Stattdessen plädiert er für ein dem Grassi-Hauptportal vorangestelltes Zentrum mit Eintrittskassen und einem Café. Dem stünde das Wiederaufbauvorhaben nichts entgegen, so Vereinsvorsitzender Schulze. Der Mitbegründer der „Leipziger Blätter“ ist der Ansicht, dass beide Interessen miteinander verzahnt können. So könnte die Bach-Gellert-Gruft tourismusträchtig hell ausgeleuchtet und mit Glas überdacht ins künftige Grassi-Zentrum integriert werden. Ein Vorhaben, welches Volker Rodekamp, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums ausdrücklich begrüßt. „Das wäre die Attraktion für diesen Ort! Man würde sich die Nasen plattdrücken!“ 

Außerdem hält Schulze eine ausschließliche Nutzung des Kirchturms für religiöse Zwecke für ausgeschlossen. Sein Dafürhalten wäre es, im künftigen, in Sichtachse zur ehemaligen Universitätskirche St. Pauli stehenden, Neubau des Johanniskirchturms einen begehbaren Gedenkort einzurichten. Dieser soll die Geschichte der ehemaligen Hospizkirche und auch den darin innewohnenden Reichtum der inzwischen größtenteils verloren gegangenen baulichen und kunsthistorisch relevanten Schätze veranschaulichen. „Warum nicht auch die moderne Architektursprache des Paulinum aufgreifen?“, fragt er. Als Mitglied im Verband für zerstörte Kirchenbauten in der DDR meint er auch, der Campanile könne auch als Dokumentationszentrum dienen, wo diese willkürlichen Zerstörungen anhand von digitalisierten Fotos und Archivmaterial in einer Dauerausstellung gezeigt werden. Bis diese Ideen und Vorhaben wirklich greifen würden, stehe das vor einiger Zeit installierte Kreuz an der Stelle, wo einst der Johanniskirchturm stand. Schulze hofft, dass ein Konsens mit Stadt und GRASSI hergestellt wird. Er will weitere Vorhaben mit der Besitzerin der Fläche, dem Amt für Stadtgrün und Gewässer und der HTWK, besprechen. Dann soll es auch um einen Ideenwettbewerb von HTWK-Studenten gehen, die Entwürfe zeichnen sollen wie sie sich das künftige Aussehen des Platzes vor dem Grassimuseum vorstellen würden. 

Den Bau des neuen Johanniskirchturms würde er wohl nicht mehr erleben, so der 84-jährige. Denn alles müsste von öffentlicher Hand finanziert werden. Bis alles soweit ist, würde noch viel Wasser die Pleiße herabfließen.

Der Johanniskirchturm – Sprengung und Wiederaufbauinitiative

Augenoptiker Thomas Truckenbrod, Historiker Werner Marx, CDU-Stadtrat Johannes Hähle gründeten zusammen mit anderen Bürgern 2003 den Bürgerverein, der sich für den Wiederaufbau des 1963 aus ihrer Sicht sinnlos gesprengten Kirchturms einsetzt. Der Vereinsgründung ging eine von der CDU-Fraktion angeregte und vom Stadtrat abgesegnete Wettbewerbsauslobung voraus. Dieser sollte sich mit der Neugestaltung des ehemaligen Kirchenbauareals beschäftigen. Die Johanniskirche wurde zwar in der Bombennacht vom 4. Dezember 1943 schwer beschädigt, aber sein Kirchturm blieb weitestgehend erhalten, wurde 1956 aufwendig saniert. Grund hierfür war ein an dieser Stelle geplantes Bach-Mausoleum, dessen zentraler Bestandteil eben der restaurierte Kirchturm sein sollte – gemeinsam mit einem am Eingang der Nürnberger Straße gut erhaltenen, ebenfalls abgerissenen, Pavillon bildete der Turm eines von Leipzigs seltenen Barockensembles. Dass beides zerstört wurde, lag laut Zeitzeugenbericht von Johannes Schulze am vorauseilenden Eifer verschiedener Stadtverwaltungsmitarbeiter und Stadträte. Einen SED-Politbürobeschluss zum Abriss des Turms habe es nie gegeben. 2003 stand der damalige Baudezernent Engelbert Lütke-Daldrup der Idee des Wiederaufbaus offen gegenüber. Der Platz brauche an der Stelle einen architektonischen Akzent. Eine moderne Lösung anstelle eines Barockreplikats sei ihm lieber gewesen. Der Stadt fehlte es damals Geld. Heute ist es nicht anders. Aber eine Gedächtnisstätte für die Opfer des Bombenkrieges, ein Gedächtnis an die Wirkungs- und Bestattungsstätte Johann Sebastian Bachs sowie ein Kirchenabriss-Memorial könne inzwischen auch als diametrales Achsenakzent zum Paulinum in ähnlich moderner Lösung überlegt werden. Zusammen mit einem Kassenbereich sowie Café für das Grassimuseum könnte der jetzige Platz belebt und als ein kulturelles Scharnier dienen – mit internationaler Wirkung. 

Rätselhafte Schatten bei der Turmsprengung

„Bei der Sprengung waren in der Nähe des Turms keine Menschen“, sagt Johannes Schulze, Vorstand des Vereins für den Wiederaufbau des Johanniskirchturms, als Augenzeuge. Dennoch existiert ein auf dem Videostreamingportal „Youtube“ gestellter Film, der die Sprengung des Turms dokumentiert und in dessen Staubwolke einige Personen verschwinden. 

Autor: Daniel Thalheim

Artefakte - Das Journal für Baukultur und Kunst, und sein regionaler Ableger für Leipzig, ist aus fachwissenschaftlichen Interessen in den Bereichen Architektur- und Kunstgeschichte entstanden. Eine Freigabe meiner persönlichen Daten und eine direkte Kontaktaufnahme ist aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich. Die Inhalte meiner Webseiten artefactae.wordpress.com, derglaesernemensch.wordpress.com, artefaktejourn.wordpress.com sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Aufnahme in Online-Dienste, Internet und Vervielfältigung auf Datenträger wie CD-ROM, DVD-ROM usw. dürfen, auch auszugsweise, nur nach vorheriger, schriftlicher Zustimmung durch mich erfolgen. Eine kommerzielle Weitervermarktung des Inhalts ist untersagt. Zitieren aus den urheberrechtlichen geschützten Inhalten ist nur nach Rücksprache und nach Klärung von Verwertungsrechten gestattet. Ich hafte nicht für unverlangt eingesandte Inhalte, Manuskripte und Fotos. Die Veröffentlichung von Kommentaren behalte ich mir vor. Sie unterziehe ich einer Qualitätsprüfung. Für Inhalte externer Links und fremde Inhalte übernehme ich keine Verantwortung.

Hinterlasse einen Kommentar