Leipzig um 1900 – Der verschwundene Brunnen von Bernhard Frydag

Der Schäferbrunnen um 1910 (Postkarte von 1910, unbekannter Fotograf, Copyright frei)

Von Daniel Thalheim

1907 wurde ein Brunnen in den Besitz der Stadt Leipzig übertragen. Käufer war ein Ehepaar, das das Kunstwerk anlässlich ihres Silberhochzeitstages direkt vom Künstler erwarb. Delikat ist das Thema des Brunnens. Ausgesucht und erlesen war das Material. Der Künstler war kein Unbekannter. Der Brunnen ist aber heute nicht mehr auffindbar – zum großen Bedauern des Amts für Stadtgrün und Gewässer sowie des Kulturamts der Stadt Leipzig. 

Ein Vertreter der Neo-Romantik und des Jugendstils in Deutschland – Bernhard Frydag

Bernhard Frydag (1879-1916) blickte auf ein künstlerisch bewegtes Leben zurück. Geschrieben wurde jedoch über ihn wenig. Wenige Einträge finden sich in alten Periodika, im Internet, in Archiven und in dem einen oder anderen Lexikoneintrag. Er war Mitglied im Deutschen Künstlerbund, einer Vereinigung, die u.a. auf das Bestreben des Leipziger Malers und Grafikers Max Klinger (1857-1920) zurück geht. Eine Generation von Neuerern der deutschen Malerei und Plastik, wie Alfred Lichtwark (1852-1914), Max Liebermann (1847-1935), Lovis Corinth (1858-1925) und Max Slevogt (1868-1932) gehörten zu dieser überregionalen Sezession. Auch der Expressionist Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976) war Teil des ersten gewählten Vorstandes des Deutschen Künstlerbundes. Der Bildhauer und Medailleur Bernhard Frydag war hingegen eines von vielen Mitgliedern. Zu seinem Werk gehören vorwiegend dekorative Bauplastiken und Kleinbronzen. Sein Schäferbrunnen sticht, wie sein heute noch bestehendes Kriegerdenkmal am Mauritztor in Münster, aus diesem Werkschaffen hervor. Beide Objekte sind autarke Großplastiken. Sein Schäferbrunnen war auch eine von drei von ihm eingereichten Arbeiten im Park der Großen Berliner Kunstausstellung 1907. Dieses Kunstwerk, eine Figurengruppe aus einer Frau und einem Mann und einigen Schafen, wurde nach der oben erwähnten Berliner Ausstellung von der Stadtverwaltung Leipzigs angekauft und im damaligen König-Albert-Park aufgestellt. Der Brunnen aus Muschelkalk befand sich an der Stelle wo heute das Schachzentrum im Clara-Zetkin-Park steht.

Frydag selbst wohnte in Berlin-Grunewald, wurde am 18. Juni 1879 in Münster geboren. Er war Schüler der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbe-Museums. Sein Schaffen ist ausgezeichnet von der Betonung der Vertikalen und der scharfen Linie. Auf der Münchner Jahresausstellung 1906 zeigte er die Kleinbronze „Verklungenes Lied“. Es zeigt einen Violinisten, der im Spiel innehält. Zu seinen Füßen versucht eine halbnackte Muse ihn zum Spielen zu bewegen, schafft es aber nicht. Die innere Bewegtheit der Figuren wird durch ihre Starre verstärkt. Die Erstarrung des Violinisten wird durch den steifen Gehrock potenziert. Die Skulptur versinnbildlicht auf diese Weise den Verlust der inneren künstlerischen Eingebung und der Kreativität. 

Was die Akten über den Leipziger Schäferbrunnen erzählen

Der Schäferbrunnen hat eine kurze Geschichte. Bevor er nach Leipzig kam wogte zunächst ein reger Briefwechsel zwischen den Ausstellungsorganisatoren der Großen Berliner Kunstausstellung und dem Rat der Stadt Leipzig hin und her. Ausgangspunkt war eine im Jahr 1900 erfolgte Stiftung von 20.000 Reichsmark zweier hoch angesehener Leipziger, einem Ehepaar, das zur Silbernen Hochzeit sich ein Denkmal setzen wollte. Dieses Geld wurde in einer eigens geschaffenen und an den Mitinhaber des Leipziger Bankhauses Meyer & Co., Stadtverordneten (1897-1906) und Stadtratsabgeordneten (1906-1925) Adolf Oscar Meyer (1849-1925) gebundenen Fonds hinterlegt. Der Stifter des Brunnens, der Leipziger Archäologe und Historiker sowie Direktor des Museums der Bildenden Künste, Theodor Schreiber (1848-1913), sah die Skulpturengruppe auf der Berliner Kunstausstellung, die im Sommer 1907 am Lehrter Bahnhof stattfand. Ihm und seiner Frau gefiel sie so sehr, dass sie den Stiftungsverwalter, den Stadtratsabgeordneten Oskar Meyer, beauftragten, den Kauf zu tätigen und den Transport nach Leipzig zu ermöglichen. 11.500 Reichsmark betrug der Kaufpreis. Doch um die Genehmigungen für den Kauf und die Standortwahl – der König-Albert-Park nahe dem heutigen Musikpavillon – zu erhalten, musste eine Vorlage geschrieben werden, die der damalige Oberbürgermeister Carl Bruno Tröndlin (1835-1908) im Juli 1907 verfassen ließ und unterschrieb. Die Vorlage gelangte in die Ratsversammlung, worüber einstimmig positiv beschieden wurde. Da die Berliner Kunstausstellung bereits im August 1907 endete, bat die Stadtverwaltung die Ausstellungsorganisatoren, die Figurengruppe am Ausstellungsort bis zur Abholung zu belassen. Auch über Zeitpunkt der Ankunft und Aufstellung musste in der Ratsversammlung beschieden werden. Darüberhinaus wurde der Künstler seitens des Oberbürgermeisters aufgefordert, keine Duplikate oder Repliken zu schaffen, die aus dem selben Material wie das Original bestehen und nicht größer als die Hälfte des Originalbrunnens sein sollen. Der Künstler bot zudem an, selbst für die Schaffung einer Wasserleitung zu sorgen und reichte zur Genehmigung Baupläne für zwei Sitzbänke aus dem selben Material wie der Brunnen und Sitzflächen aus weiß lackiertem Holz ein. Ende Oktober erreichte der Brunnen die Messestadt. Standort, Umfang und Bepflanzung des Brunnenareals waren bereits genehmigt. Bernhard Frydag überwachte persönlich die Bauarbeiten. Seit seiner Installierung erfreute der Brunnen sich als beliebtes Ausflugsziel und Fotomotiv. Der Zahn der Zeit nagte sofort nach der Aufstellung des Brunnens. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg musste der Brunnen restauriert werden. Die Wasserleitungen waren undicht, das Holz der Sitzbänke wurde spröde und platzte ab. Aber auch andere Probleme taten sich auf.

Schäferbrunnen um 1912, kolorierte Postkarte von 1912 (Copyright frei)
Schäferbrunnen um 1912, kolorierte Postkarte von 1912 (Copyright frei)

1913 wurde die Stadtverwaltung vom Magistrat im schlesischen Hirschberg angeschrieben. In einem Prospekt über Leipzigs Kultursehenswürdigkeiten war auch der Brunnen abgebildet. Dieser kam dem Magistrat verdächtig vor, weil die Stadt Hirschberg ebenfalls Besitzerin eines ähnlichen Brunnens war – allerdings kleiner und aus einem anderen Material beschaffen. Nach einem kurzen Briefwechsel schlief die Korrespondenz ergebnislos ein. Eine 2018 erfolgte Anfrage an die Stadtverwaltung von Jelenia Góra, wie Hirschberg heute heißt, blieb bislang unbeantwortet.

Der Leipziger Schäferbrunnen wurde während der Weimarer Zeit mehrfach wegen witterungs- und vandalismusbedingten Beschädigungen aktenkundig. 1929 brach die Dokumentation jäh ab. Eine im Internet kursierende Fotografie aus dem Jahr 1931 bezeugt noch das Vorhandensein des Brunnens, der in einem Artikel im Allgemeinen Künstlerlexikon bis April 2018 seit 1929 als „verschollen“ bezeichnet wurde. Verschollen war der Brunnen aber nicht. Es wurde entweder keine Akte mehr über ihn geführt, oder ein Teil der Akte ging in einer anderen Akte auf. Vielleicht hängt der Aktenschluss auch mit dem Ausgehen des restlichen Stiftungsgeldes zusammen, das übrig blieb. Über die Kosten der Renovierungen, Reparaturen und Instandhaltungen wurde penibel Buch geführt. Auch darüber, dass manche Posten zu teuer waren und deshalb nicht ausgeführt werden konnten. Der Brunnen muss sogar den Zweiten Weltkrieg überstanden haben, sagt in diesem Fall das Amt für Stadtgrün und Gewässer über den Verbleib des Brunnens. Mit der Umgestaltung der alten Parkanlagen zum heutigen Clara-Zetkin-Park verschwand offenbar die Figurengruppe für immer. Ihre Reste wurden wahrscheinlich abgetragen und entsorgt. Muschelkalk ist kein witterungsbeständiges Material. Womöglich hat der Brunnen das auslaufende Wasser aus den defekten Leitungen, den Wechsel von Frost und Hitze nicht überstanden und verwitterte über die Jahre immer stärker. Dass er in Leipzig an anderer Stelle wieder entstehen könnte, so wie es jüngst mit dem ebenfalls verloren gegangenen Froschbrunnen auf dem Rabensteinplatz unternommen wurde, steht in den Sternen. Dafür benötige es viel privates Engagement. 

Sinnlich und erotisch – das Schäfermotiv

In den 1570er Jahren schuf der italienische Maler Tizian das Gemälde „Nymphe und Schäfer“. Die Nymphe liegt in Tizians Gemälde auf einem Tierfell. Bis auf ihren Schleier, der auch nicht viel verbirgt, ist die Frau nackt. Was sie wohl weiß und dem Betrachter mitteilen will, den sie mit ihrem Auge direkt betrachtet? Ein junger Mann neigt sich zu ihr hin, hat die Flöte abgesetzt. Die Landschaft erscheint unruhig. Ein Baum, der perspektivisch der Nymphe zugeordnet ist, ist abgebrochen – tot. Schafe fehlen in diesem Bild. Tizians Thema will von Kunsthistorikern noch nicht abschließend geklärt sein. Tizian habe nach der Meinung des Kunsthistorischen Museums in Wien das Schäfer-Nymphenmotiv durch die psychologische Tiefe der Gestaltung ins Mythische gehoben. 

In der Antike kannte man vielerlei mythologischer Gestalten wie diese. Wald- und Baumnymphen, Wiesennymphen, Meernymphen u.v.a.m. In welcher Beziehung beide Figuren zueinander stehen, wird anhand einer Skulptur von Wilhelm Neumann-Torborg (1856-1917) deutlich. Sein 1890 entstandenes Werk zeigt eine Nymphe zusammen mit einem Faun. Unschuld und Verführung stehen als Motive im Raum. Sowohl in Neumann-Torborgs Werk als auch in Frydags Schäferbrunnen sehen wir einen Quellnymphe – eine Najade. Dieses antik-griechische Motiv scheint in der Spätromantik sehr beliebt gewesen zu sein. Der deutsche Maler Arnold Böcklin (1827-1901) schuf 1886 ein beeindruckendes Gemälde mit dem Titel „Das Spiel der Najaden“. Anselm Feuerbach (1829-1890) bildete schon 1870 eine „ruhende Nymphe“ ab, der Spätklassizist William Adolphe Bougeureau (1825-1905) schuf 1873 das vor Erotik knisternde Bild „Nymphe und Satyr“. Sein 1896 geschaffenes Gemälde „Die Welle“ könnte ebenso eine Wassernymphe zeigen. 

Doch welche Geschichte wird mit dem Paar aus Schäfer und Nymphe erzählt? Mehrere! In aller Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Tizians und Frydags Bilder um Abwandlungen der seit der Antike bekannten Geschichte um die Nymphe Daphnis, die dem Waldgott Pan erliegt. Daphnis war allerdings ein Jüngling, ein Hirte aus Sizilien. Er ist der Sohn des Götterboten Hermes und einer Nymphe. Seine Mutter setzte ihn nach seiner Geburt in einem Lorbeerenhain aus, daher auch sein Name „Daphnis“. Auf Griechisch heißt er „Lorbeerkind“. Weil er gegenüber der Nymphe Nomia untreu war, wurde er mit Blindheit geschlagen. Pan verliebte sich in den Jüngling und brachte ihm das Flötenspiel bei. Der spätantike Autor Longos von Lesbos (3. Jahrhundert) schrieb hingegen die Geschichte „Chloe und Daphnis“ nieder, in der sich beide ineinander verlieben, lange und glücklich zusammen leben. Der Bildhauer Jean Pierre Cortot (1787-1843) schuf eine dem Thema entsprechende Marmorskulptur, die heute im Louvre in Paris steht. Die Familien von Chloe und Daphnis sind laut Longos Hirtenfamilien, die Schafe hüten. Gut möglich, dass Bernhard Frydag dieses Thema kannte und in seinem Brunnen verbildlichte. Die Interpretationskette ist also lang. Frydags Brunnenthema spielt sowohl mit den Aspekten Liebe, Beständigkeit und Glück, aber auch mit Erotik, Verführung und den Verlust der Unschuld. 

Autor: Daniel Thalheim

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2 Kommentare zu „Leipzig um 1900 – Der verschwundene Brunnen von Bernhard Frydag“

  1. Ich habe 2 Fotos von 1954 wo ich als 2-jähr. Mädchen an dem Schäferbrunnen im Albertpark fotografiert bin. Er kann also nicht seit 1929 verschollen sein.

    1. Ich danke für Ihren Kommentar. Im Artikel steht auch, dass der Brunnen, obwohl er in einem Lexikoneintrag seit 1929 als „verschollen“ bezeichnet wurde, womöglich laut Auskunft des Amts für Stadtgrün und Gewässer bis zum 2. Weltkrieg und bis spätestens bis zur Umgestaltung zum heutigen Clara-Zetkin-Park existierte und den flachen Gebäuden, die heute dort noch stehen, weichen musste.

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