Art Déco als Ausstellung – Warum in Deutschland mit irreführenden Begriffen hantiert wird

Daniel Thalheim

Ein Gespenst steht vor der Tür und bittet um Einlass. Seitdem Norbert Wolf & Co. „Art Déco“ als Epochenbegriff für kunsthandwerkliche Erzeugnisse der Zwanziger- und Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts für sich entdeckt haben, geistert das Gespenst der Nicht-Wissenschaftlichkeit herum. Auch in Leipzig werden regelmäßig Ausstellungen unter einem Begriff gezeigt, der doch alles griffig und hübsch verpackt, was man in der Zeit der Klassischen Moderne so chaotisch und bunt durch einander gewürfelt wahrnimmt, blickt man mit der Lupe in diese Zeit.

Eine Ausstellung will Kunstgeschichte vermitteln, hantiert mit falschen Begriffen

Das Grassi Museum für Angewandte Kunst Leipzig zeigt, nach einer großen Schau 2015/16, ab dem kommenden Wochenende in seiner Pfeilerhalle eine Ausstellung von Porzellanarbeiten. Die rund 400 Exponate: Dosen, Gedecke, Vasen, Schalen und Figuren werden stilbegrifflich unter dem Namen „Art Déco“ zusammengefasst. Begründet wird der Begriff stets mit der Mutmaßung, dass allein extravagante Formen, überraschender Dekor und Farbenreichtum die Produkte der Porzellanmanufakturen der 1920er und frühen 1930er Jahren auszeichne. Dosen, Vasen und Gedecke würden wegen dieser inflationär verwendeten Dekoration zwischen Gebrauchsgegenstand und Zierstück pendeln. Die Gestaltungsfreude in dieser kurzen Periode aus zwei Dezennien kenne daher kaum Grenzen, wo Kunsthandwerkler abstrakte Formen , fernöstliche Einflüsse, arabesk-ornamentale Dekore und strenge Geometrie miteinander vermischen, was augenscheinlich nicht zusammenpasst. Dem nicht genug, der schon seit der ägyptischen Antike verwendete Zackenstil wird immer wieder heran gezogen, um ein besonderes Merkmal zu verdeutlichen, was Art Déco ausmachen soll. Auch das im Reformgepräge Sachsens entstandene Ausstellungsgebäude des ehemaligen Kunsthandwerksmuseum in Leipzig wird dem Art-Déco-Filter unterzogen. Schuld daran haben einige Leipziger Denkmalpfleger, die nicht mit Quellen zu hantieren und auch nicht mit der französischen Sprache umzugehen wissen. So kommt zustande, dass in den Büchern eines ehemaligen Bezirksdenkmalpflegers von Leipzig immer wieder Art Déco geistert, wo nichts dahintersteht als der trendige Griff in die Schatullen der Klassischen Moderne der europäischen Sezessionsbewegungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Oftmals waren die modernen Einschübe in die damaligen geschmäcklerischen Arbeiten so gewagt, dass einem nichts weiter einfiel als die Ergüsse Kitsch, Tand und „Modernes Rokoko“ zu bezeichnen. Dass das Gebäude des Leipziger Grassi-Museums nichts weiter als ein Aufgriff fernöstlicher Architektur mit einem Grund- und Aufriss für Friedhofsbaukunst ist, hat man bis heute nicht erkannt. Insofern muss ernsthaft nachgedacht werden, warum man sich bei der Verwendung solcher Begrifflichkeiten und Stilepochen, wie sie in Deutschland fälschlicherweise in der kunstwissenschaftlichen Hermeneutik verwendet werden (Romanik, Gotik, Renaissance, Barock etc.), so verhaspelt und einfach macht.

Wie ein Stilbegriff erfunden wird

Hilary Gelson war Journalistin der „Times“. Sie schrieb 1966 einen Bericht über die Kunstströmungen, die nach dem Ersten Weltkrieg stellvertretend für die „Goldenen Zwanziger“ stehen sollten. Auslöser war die 1966 gezeigte Rückschau „Les Années 25 – Art Déco, Bauhaus, Stijl, Esprit Nouveau“. Sie stellte auf Grundlage der 1925 in Paris veranstaltete Kunstgewerbeausstellung „Exposition internationale des Arts Décoratifs et industriels modernes“ den Stilbegriff „Art déco“ vor. Kurz darauf setzte sich der Name schnell durch. Auch in Deutschland hat sich „Art déco“ als Titulierung für flächige Ornamentik, expressive Farbigkeiten und zackige Formen etabliert. Wie kurz der Begriff eigentlich gedacht ist, zeigt ein Blick hinter die Fassade.

L’Art Decoratif ist ein Verlegenheitsbegriff

Die französische Sprache ist mitunter tückisch. In der Vergangenheit wurde alles das als „l’art decoratif“ bezeichnet, was eben dekorativ und schmuck aussieht. Stilbegriffe wie Rokoko und Barock hat es als zeitgenössische Quellenbegriffe so nicht gegeben. Sie wurden im 19. Jahrhundert als abwertende Begriffe eingeführt. Bei „Art déco“ scheint das anders zu sein. Das, was die 1925 stattgefundene Ausstellung in Paris zeigte, war alles das, was man unter industriell gefertigter Kunst und als modern verstand. Nicht umsonst bezeichnet das Grassimuseum für Angewandte Kunst in seiner Ausstellungsankündigung für die am 7. November gestartete Kunstgewerbeschau unter dem Motto „Elegant / Kostbar / Sinnlich – Art Déco“ den von Gelson eingeführten Namen als Sammelbegriff dessen, was schon im Ausklang der europäischen Sezessionsbewegungen – in Deutschland zusammenfassend als Jugendstil bezeichnet – vor und um 1900 mit der britischen „Arts & Crafts“-Bewegung, der Wiener Werkstätte und dem Deutschen Werkbund begann: die Versachlichung und Vereinfachung der Ornamentik zugunsten der Fläche und Form. In der Malerei ist die Abkehr der opulenten Form bei den Arbeiten des Kubismus, Fauvismus und Expressionismus zu erkennen. Diese Formensprachen fanden auch Einzug ins Kunsthandwerk und Architektur.

Art déco und Rokoko?

Gilles-Marie Oppenort (1685-1742) war ein französischer Architekt. Er gilt als einer der Hauptvertreter der Régence-Stil-Dekoration. Als Régence wird eine relativ knappe Periode unter Ludwig XV. bezeichnet, die sich von 1715 bis 1723 erstreckte. Philipp von Orléans übernahm die Regentschaft, weil der junge König noch minderjährig war – daher der Begriff Regentenstil. Der opulente Schmuck an den von u.a. Oppenort entworfenen Portale, Altäre, Grabmäler, Obelisken, Möbel und Uhren geben die im 19. Jahrhundert erschienenen Bücher „L’Art Decoratif Appliquee a L’art Industriel“, „Histoire de la peinture décorative“ und „L’art décoratif dans le vieux Paris“ beredte Zeugnisse ab, dass seine Ornamentkunst als Designer und Zeichner im 19. Jahrhundert als „dekorativ“ verstanden wurde. Oppenort entwarf Ornamente, die er aus den italienischen Grotesken zu einem „rocaille“-Design weiterentwickelte, was in Deutschland gern als „Rokoko“ bezeichnet wird. Auch das wurde damals als „decoratif“ bezeichnet. Das Rokoko rettete sich ins 20. Jahrhundert, weil damals noch „Art déco“ nicht als Formen- und Stilbegriff Eingang in die Kunstgeschichte gefunden hatte. Der Theaterarchitekt Oskar Kaufmann errichtete 1901 das Renaissance-Theater in Berlin auf einem spitzwinkligem Grundriß eines ehemaligen Vereinshauses. 1928 bezeichnete der britische Kunsthistoriker Max Osborn die farblich opulente Einrichtung aus den Zwanziger Jahren als „expressives Rokoko“. Heute wird es als „Art Déco“ beschrieben. Dabei beschreibt der französische Begriff nichts anderes als kunsthandwerkliches Schaffen rund um die dekorativen Künste, wie es im englischsprachigen Raum als Arts&Crafts bezeichnet wird und im deutschsprachigen Raum als „Kunsthandwerk“ bekannt ist.

Der Zackenstil ein Ausdruck des Ausdrucks?

Als Hauptmerkmal des „Art déco“ wird gern der Zackenstil angeführt, den man auch am Leipziger Grassimuseum und Chrysler Building in New York sehen kann, sich aber auch an den Türen des Gemeindehauses der Paul-Gerhardt-Kirche in Leipzig-Connewitz befindet und in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts von Architekten wie Clemens Holzmeister, Ignaz Reiser und Wilhelm Haller verwendet wurde. Verwendung fand der Zickzack-Stil aber schon in den Wandmalereien in ägyptischen Tempeln des Pharaonenreichs. Daran knüpft v.a. die Ornamentik im arabischsprachigen Kulturraum an, der im Mittelalter bis nach Spanien hineinreichte. Selbst in der normannischen Architektur der „Gotik“ in England taucht das Zickzackbandmuster als Versinnbildlichung von Wasser auf. Zickzack-Linien und andere Ornamente dahingehend als typisch für „Art déco“ zu bezeichnen ist nicht nur irreführend sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht kunsthistorisch falsch und speist sich aus purer Hermeneutik. Leider wird gerade in der populärwissenschaftlichen Literatur dies anders gesehen und verbreitet. So gesehen, sind Stilbegriffe und -epochen, wie sie in der Kunstwissenschaft verwendet werden, völlig willkürlich gesetzt und daher nicht-wissenschaftlich. Denn, so zeigt auch der Blick auf die Dekor- und Formenfindung in Design und Architektur in dieser Zeit, oft wird Art Deco auch für Arbeiten, die aus dem Bauhaus und der niederländischen De-Stijl-Bewegung, verwendet und irreführend eingesetzt, so u.a. Designs in der White City in Tel Aviv, in den USA (v.a. für windschnittige Formen von Automobilen und Zügen) und auch in Deutschland. Wer sich die Definition anschaut, die Befürworter des Art Déco hochhalten, treffen die Verwendungen von eindrucksvollen Mustern und Formen in jeder sogenannten Kunstepoche auf. Das trifft auch für die Verwendung von edlen Stoffen und Materialien zu. „Art Déco“ müsste so gesehen für jedwede kunsthandwerkliche Arbeit stehen; von den frühen Keramikarbeiten in der Jungsteinzeit bis hin zu Musterungen an Bettwäsche und Lampen im neuesten Lidl-Prospekt. Es ist einfach, ein Begriff zu verwenden, aber schwer ihn zu definieren. Für die nicht-wissende Bevölkerung streut man so unabsichtlich oder auch wissentlich Sand in die Augen und versucht so, möglichst populäre Veranstaltungen zu vermarkten, oder auch den Krempel vom nächstgelegenen Trödelmarkt.

 

Beitragsbild: Dose Schaubach Kunst, vorm. Kaempfe & Heubach Wallendorf, um 1930, Porzellan, handbemalt, Golddekor Sammlung Prof. Dr. Peter W. Schatt, Hamburg Foto: Esther Hoyer